O. Dürr: Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus

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Titel
Homo Novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus


Autor(en)
Dürr, Oliver
Reihe
Studia Oecumenica Fribourgensia
Erschienen
Münster 2021: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
559 S.
von
Enrico Grube

Transhumanistische Thesen, Programme und Visionen beflügeln seit der Jahrtausendwende in kaum zu überschätzendem Maße die kollektive Imagination der globalen digitalisierten Welt. Angesichts der Tatsache, dass in diesen Visionen nicht nur eine spezifische digitalistische Anthropologie, sondern im Versprechen der Möglichkeit eines ‹Mind-Uploadings› auch eine technogene eschatologische Hoffnungsperspektive kolportiert wird, verwundert es, wie wenig theologische Untersuchungen zu diesem vielschichtigen Phänomen bislang erschienen sind. Der vorliegende Band, eine überarbeitete Fassung der Dissertation des Verfassers, versucht dem Abhilfe zu schaffen. Was Dürr hier vorlegt, ist eine umfassende, fachübergreifende, jedoch ebenso treffsichere und tiefschürfende Darstellung und theologische Kritik der transhumanistischen Agenda aus der Sicht einer konfessionsübergreifenden christlichen Schöpfungs- und Heilslehre.

Dabei ist es weniger das Anliegen des Verfassers, spezifische transhumanistische Thesen philosophisch oder empirisch zu kritisieren, sondern eher, die dahinter stehenden, oft implizit bleibenden metaphysischen, anthropologischen und imaginativen Hintergrundannahmen zu überprüfen, die den transhumanistischen Diskurs nicht nur zukunftsweisend erscheinen lassen, sondern zu einer Art immanentistischen Ersatzreligion akademischer und technologischer Eliten werden ließen. Die grundlegende Problemstellung, wie man gegen eine Vision bzw. ein vielgestaltiges ideologisches Programm argumentieren soll, löst Dürr virtuos, indem er zum einen in einem ideologiekritischen Verfahren die dem transhumanistischen Projekt immanenten Widersprüche aufdeckt und den Schein seiner Plausibilität genealogisch entzaubert, zum anderen ihm in einer neu reformulierten christlichen Anthropologie Ansätze zu einer zukunftsweisenden Alternative entgegenstellt.

Im ersten Teil entwickelt der Verfasser zunächst die technikphilosophischen Grundlagen für die folgenden Analysen (Kap. 2), wobei evident wird, dass Technik einen eminent politischen Charakter hat, indem sie Möglichkeitsräume sozialen Handelns strukturiert. Dies hat insofern theologische Implikationen, als jede politische Vision «vor dem Hintergrund ihrer weltanschaulichen, imaginativen und metaphysischen Voraussetzungen als Eschatologie verstanden und entsprechend auch auf ihre soteriologische Dimension hin befragt werden [kann]» (59). Dürr greift hier auf Denkfiguren der politischen Theologie zurück, der zufolge das Heil des Menschen bzw. eine «Bergung des Endlichen» nie unabhängig von seinen konkreten Handlungen und Strukturen des Zusammenlebens gedacht werden kann. Der Transhumanismus erscheint vor diesem Hintergrund als quasi-religiöse Heilslehre (Kap. 3), die unter dem Axiom der «morphologischen Freiheit», also einer uneingeschränkten Wahlfreiheit in der Gestaltung des Selbst, zunächst menschliche Selbstmodifikation und -verbesserung (‹enhancement›) propagiert, um dann jedoch in einen nihilistischen Posthumanismus zu münden, in dem der Mensch zugunsten eines obskuren posthumanistischen Zustandes transzendiert, d.i. letztlich liquidiert werden soll. Mit Blick auf die Frage, wie ein solch janusköpfiges Programm nicht nur kohärent, sondern erstrebenswert erscheinen kann, macht der Verfasser einen Ausflug in die begriffliche Genese von ‹transhuman›. Ausgehend von Dantes Göttlicher Komödie, in der das Verb ‹transhumanar› zuerst auftaucht, aber freilich als Bezeichnung einer heilsgeschichtlichen Bewegung hin zur Vergöttlichung des Menschen in der Schau Gottes (visio Dei), wird gezeigt, wie der Be griff sich im Anschluss an Julien Huxley seiner spirituellen Tiefendimensionen entledigte und eine rein immanente Bewegung in einem technogenen Weiter- und Nachleben bezeichnet. Die eschatologisch-politischen Implikationen dieser immanentistischen Metaphysik werden im Anschluss (Kap. 4) unter Zuhilfenahme der politischen Theorien Eric Voegelins und Giorgio Agambens analysiert. Dabei gelingt es dem Verfasser, die transhumanistische Vision als biopolitisch radikalisierte Variante des Hobbesschen Kampfes ums Überleben darzustellen. Mithin muss der Transhumanismus als «eschatologisches Konkurrenzprogramm zum christlichen Glauben» (167) gesehen werden (Kap. 5), für den in seiner exklusiven Fixierung auf das Innerweltliche ‹Heil› nichts anderes bedeuten kann als eine quantitative Verlängerung gesunden Lebens innerhalb einer gänzlich verfügbaren und kontrollierbaren Welt.

Im zweiten Teil deckt der Verfasser Schritt für Schritt die anthropologischen Hintergründe dieses Programmes auf, beginnend mit einer Genese der Technik als Erweiterung der menschlichen Handlungsmacht (Kap. 6), die – wie der Autor im Anschluss an Ivan Illich argumentiert – im Verlauf des Spätmittelalters aufgrund eines neuen Verständnisses der causa instrumentalis eine ambivalente Entwicklung nahm, da dieses den Weg für einen rein instrumentalen Weltzugang ebnete. Die Geschichte dieser Entwicklung macht der Autor an den Begriffen ‹Werkzeug›, ‹Maschine›, ‹Prothese› und ‹System› fest. Dieser instrumentelle Weltzugang mündet schließlich in eine Anthropologie, in der der Mensch als eine Art biologischer Computer (Kap. 7), d. h. als informationsverarbeitende Rechenmaschine oder gar als substratunabhängiges funktional-algorithmisches Muster verstanden wird, sowie in eine dementsprechende Theorie der Wirklichkeit als strukturierte Ansammlung atomistischer Informationen. Das Paradox des Transhumanismus liegt dabei darin, dass er den Menschen zugleich als autonomes Subjekt und als Produkt von Informationsverarbeitungsprozessen versteht, das sich immer mehr genötigt sieht, seine Entscheidungen an technische Artefakte zu delegieren, da die Optimierungslogik techno-kapitalistischer Gesellschaften seine subjektive Entscheidungskompetenz überfordert.

Das posthumanistische Programm einer Liquidierung des Menschen zugunsten einer pseudo-rationalen ‹Superintelligenz›, die sich schließlich im schwarzen Loch der technologischen Singularität vollendet (Kap. 8), erscheint als logische Konsequenz dieser paradoxen Logik. Dem Verfasser gelingt es hier, das selbstwidersprüchliche Oszillieren zwischen einem humanistischen Programm der Selbstperfektionierung und einem post-humanistischen Programm der Selbstauslöschung ins Virtuelle als zwei Kehrseiten derselben Medaille auszuweisen. Dabei zeigt sich, dass ausgerechnet die hyper-kapitalistische Innovationslogik, die die Zukunft der Menschheit gefährdet, sich selbst als Triebfeder ihrer Rettung deklariert.

Der abschließende dritte Teil wird von einem Schwellenkapitel (Kap. 9) vorbereitet, das die demokratiegeschichtlich analogielose Krisensituation der Gegenwart als eine tragischexistenzielle Entscheidungssituation beschreibt. An dieser Stelle könne man kaum noch argumentieren, sondern allein die existenzielle Plausibilität einer anti-nihilistischen Alternativposition aufweisen. Jede Existenzweise setzt eine implizite Metaphysik voraus. Im folgenden Kapitel (Kap. 10), das ausdrücklich einen eklektischen Zug hat, unternimmt es der Verfasser dann, unter postkonfessionellen Vorzeichen Ansätze zu einem alternativen Weltbild bzw. einer alternativen Lebensform zu präsentieren. Als entscheidend erweist sich dabei die Überwindung der onto-theologischen Versuchung, die Differenz von Immanenz und Transzendenz als eine dialektische Polarität zu deuten, die entweder die radikale Diesseitigkeit des christlichen Inkarnations-, Kreuzigungs- und Auferstehungsgeschehens aus dem Blick verliert oder seine radikale Transzendenz immanentisiert. Die Theologie müsse vielmehr die Spannungseinheit von Immanenz und Transzendenz im Blick haben, die sich im Spannungsverhältnis von schöpferischer Neugestaltung und eschatologischer Vorläufigkeit konkretisiert.

Die damit vorgezeichnete Antwort auf die technikgeschichtliche Krisis-Erfahrung der Gegenwart orientiert sich am Vorbild von Denkern wie Dietrich Bonhoeffer, Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann, aber auch am radikal christozentrischen Denken Kathryn Tanners. Vor diesem Hintergrund wird überzeugend gezeigt, dass es gerade der fehlende Transzendenzbezug transhumanistischer Zukunftsvisionen ist, der sie daran hindert, der «Vollendlichkeit» unserer immenenten Existenz gerecht zu werden: «Die Entscheidung zur Annahme und Rettung des Endlichen ist deshalb die zentrale imaginative, ontologische und politische Herausforderung der Theologie im Zeitalter des Transhumanismus.» (483–484).

Zitierweise:
Grube, Enrico: Rezension zu: Dürr, Oliver: Homo Novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus (Studia Oecumenica Fribourgensia 106), Münster 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 504-506. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

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