M. Pinggera, Musik und Kirche

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Title
Musik und Kirche unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol.


Author(s)
Pinggera, Mario
Series
Schriftenreihe der Theologischen Hochschule Chur
Published
Basel 2021: Schwabe Verlag
Extent
222 S.
by
Thomas Thurnher

«Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus bedeutet immer auch die Auseinandersetzung mit einem Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte…», stellt der Priester, Theologe und Kirchenmusiker Mario Pinggera am Beginn seiner Forschungsergebnisse fest. Er untersuchte in seiner Dissertation die Situation der Kirchenmusik im Südtirol während der NS-Zeit und veröffentlichte seine Recherchen an seinem Wirkungsort, der Theologischen Hochschule Chur. Grundsätzlich, so meint er, sei die neu geschaffene Musik der Zwischenkriegszeit nicht so «übel» wie man meinen würde – im Gegenteil, manch solides Werk sei da entstanden –, übel waren die Sympathisanten des NS-Regimes und die vielen Mitläufer unter den Musikern, die sich andienten und auf diese Weise ihren vorauseilenden Gehorsam und opportunistischen Geist erkennen ließen. Heute seien ihre Werke aus verständlichem Grund diskreditiert und wegen ihrer zweifelhaften Gesinnung zurecht vergessen.
Das Südtirol sei, wenn man die zentralen Aspekte des Nationalsozialismus beleuchten möchte, sicherlich eher ein «Randthema», gibt der Autor zu. Zudem sei die Situation der Musik im Südtirol während dieser Zeit noch wenig erforscht. Aber das Südtirol stelle mit seiner geographischen Abgeschlossenheit und kulturellen Eigenständigkeit ein interessantes Fallbeispiel dar, das viel über die Strategien und Vorgangsweisen des Regimes aufzeigen könne. Das Land, das nach dem ersten Weltkrieg von Österreich abgetrennt und Italien zugeschlagen worden war, wurde in den Jahren des italienischen Faschismus zwangsweise italienisiert. Kultur und Sprache wurden unterdrückt und eine Anpassung an die italienische Kultur gefordert. Zwischen 1939 und 1943 versuchte die «Option», ein Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland, das Land kulturell zu «bereinigen». Den deutschsprachigen Südtirolern und den Ladinern wurde zur Wahl gestellt, ihre Heimat als «Optanten» in Richtung des deutschen Reiches zu verlassen oder aber im Südtirol zu verbleiben und sich anzupassen. Die sogenannten «Dableiber» waren der Italienisierung weiter ausgesetzt, während nichts ausgelassen wurde, um den Willigen das Abwandern schmackhaft zu machen. Sogar Musikgruppen aus Bayern sollten als Anreiz dienen, den Sprung in die eigens errichteten Südtirolersiedlungen nördlich der Alpen zu wagen. Diese «Option» erschütterte das gesellschaftliche Gefüge im Südtirol von der Dorfgemeinschaft bis in die Familien hinein nachhaltig und der Riss, der dadurch entstand, war noch lange nach dem Krieg spürbar. Die deutschsprachige Kultur erlebte eine Zeit der Regression. Verständlicherweise wurden die einmarschierenden deutschen Truppen 1943 als ‹Befreier› bejubelt. Die Menschen hofften nun auf die Wiederherstellung ihrer deutschsprachigen Kultur. Die Situation wurde zwar anders, aber nicht besser, wie sich bald zeigen sollte.
Viele junge Kirchenmusiker waren schon zuvor gegangen, sahen sie doch im finanziell eingeschränkten Land keine Zukunft und suchten ihre Wirkungsstätten im Nordtirol oder in der österreichischen Bundeshauptstadt. Unter der Devise: Tradition und Neues miteinander verbinden, hatten sich begabte Komponisten wie Vinzenz Goller und Josef Lechthaler bald zu richtungsweisenden Musikern an der Wiener Musikakademie entwickelt. Mit der Übernahme die Nationalsozialisten änderte sich jedoch alles: Josef Lechthaler war nicht bereit, sich dem Regime anzudienen und er verlor daher rasch die Leitung der von ihm geschaffenen Wiener Akademie für Schul- und Kirchenmusik. Der gebürtige Südtiroler wurde von allen Ämtern enthoben, wurde mit Berufsverbot belegt und es blieb dem hochverdienten Professor schließlich gerade noch eine Stelle als Musikschullehrer der Gemeinde Wien, mit der er zumindest seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Auch Vinzenz Goller aus St. Andrä bei Brixen (aus seiner Feder sind zwei Werke im gegenwärtigen Gotteslob vertreten und sein einfaches Requiem findet unter den Chören noch immer Verwendung), erging es nicht besser: als bekennender Christ und dem Nationalsozialismus äußerst distanziert Gegenüberstehender machte er sich bald Feinde im NS-Kulturbetrieb. Auch ihm wurde die Professur an der Hochschule für Kirchenmusik entzogen, er musste als beliebter und umtriebiger Bürgermeister von Klosterneuburg zurücktreten und wurde in das kleine St. Michael im Lungau strafversetzt, wo er sich gerade noch um den Kirchenchor und um wenige Klavierschüler kümmern konnte. Verarmt und abgesondert musste er auch noch den Tod seiner Frau hinnehmen, die unter den Regressionen zerbrochen war.
Franz Beno Kirchmair schließlich, ein ambitionierter junger Organist aus St. Pauls/ Eppan, der die weltberühmte Kufsteiner Heldenorgel bespielte, wurde, weil er bei Festakten das «Horst-Wessel-Lied» verweigerte, umgehend von seinen Funktionen entfernt.
Alle drei «eint der Einsatz für die Sache Musik, ohne Wenn und Aber. Politische Zugehörigkeiten waren, wenn überhaupt, zweitrangig. Und wenn es um die Sache geht, gibt es bei diesen drei Persönlichkeiten keine Kompromisse, schon gar keine Unterwerfung. So etwas darf beim Namen genannt werden: derartige Persönlichkeiten haben schlicht und einfach Charakter, eine Eigenschaft, die ihnen leider zum Verhängnis wurde. Eine Ideologie wie die nationalsozialistische Diktatur kann eben gerade keine starken Charaktere vertragen, die selbständig denken. Eine solche Ideologie bedient sich [...] durchaus der Kunst, und zwar schamlos. Aber sie verlangt auch vollkommene Unterwerfung unter das System, unter ein tödliches System. Genau das konnten Goller, Lechthaler und Kirchmair nicht leisten. Sie konnten es deshalb nicht leisten, weil sie sonst alles verloren hätten, woran sie glaubten: Kunst, Musik, im Falle Gollers die Kirche und – nicht zuletzt – Menschlichkeit.»
Auch die gebürtige Südtirolerin Marie-Luise Thurmair, die, wie ihr Mann Georg, viele Kirchenlieder mit neuen Texten versah, die heute noch in großer Zahl im Gotteslob vertreten sind, machte sich als bekennende Christin bald verdächtig und lebte in ständiger Angst vor Denunziation und Verfolgung. Andere, die dem Regime zwar nicht offen widersprachen, aber die Ideen nicht in geforderter Weise mittrugen, wurden über kurz oder lang aus dem Beruf gedrängt, ins Abseits gestellt und waren bald in ihrer Existenz bedroht. Der angesehene Musikwissenschafter Walter Senn, der damals im Auftrag der Südtiroler Kulturkommission die Musikwelt der Klöster erforschte, wäre als Beispiel zu nennen.
Es gab aber auch begeisterte und überzeugte Nationalsozialisten unter Südtirols Musikern, die das Regime nach Kräften unterstützten: Josef Ploner, Sepp Tanzer und Sepp Thaler erlebten große Wertschätzung und ihre Werke wurden gespielt und gefördert, obwohl sie weit unter dem Niveau eines Josef Lechthaler oder eines Vinzenz Goller rangierten.
Das Südtirol weist in seiner Kleinräumigkeit Besonderheiten auf, die diese Region auszeichnen. Dazu gehören neben der Stubenmusik die Kirchensinger. Diese versorgten in abgelegenen Ortschaften die Gläubigen mit geistlicher Musik. Diese Art der Musik, die der Volksfrömmigkeit entspringt, war den Nationalsozialisten ein besonderer Dorn im Auge, denn die Kirchensinger traten bei «sensiblen Anlässen» auf, waren in alte Traditionen eingebunden und daher weder kontrollierbar noch instrumentalisierbar. Generell war die tief verwurzelte Frömmigkeit etwas, wogegen das Regime angehen mochte. «Als die Nationalsozialisten im Jahre 1938 Tirol besetzten und die Macht ergriffen, begann für die Kirche des Landes die erste harte und blutige Verfolgung der Geschichte. Sie war in Tirol besonders gründlich und brutal – wohl deshalb, weil man in vielen Kreisen des gläubigen Volkes Widerstand spürte. Tausende waren von Schikanen, Benachteiligungen, Verhören und Gefängnishaft betroffen. Viele kamen ins KZ. Eine Reihe von Priestern wurde verurteilt und ermordet», berichtet Bischof Reinhold Stecher. Gauleiter Hofer wollte das Land von kirchlichen Traditionen reinigen und dem Führer ein «klosterfreies Tirol» als Geburtstagsgeschenk machen.
Die Chöre und Blaskapellen des Südtirols erlebten nun peinliche Kontrolle durch die neugeschaffenen Ämter. «Die kulturpolitischen Aufgaben der Reichspropagandaämter besteht sowohl in der Betreuung und Ausschöpfung der vorhandenen Werte unseres kulturellen Besitztums, als auch in der Förderung und Heranziehung neuer schöpferischer Kräfte, die vor allem seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus im Reich erst die Möglichkeit zur Entfaltung gefunden haben. Die Ausrichtung aller dieser Werte und Kräfte im Dienste der vom Führer vorgezeichneten kulturellen Bedeutung unseres Volkes ist eine der Hauptaufgaben der Reichspropagandaämter», konstatierte Anton Graf Bossi-Fedrigotti, die kulturpolitische «rechte Hand» von Gauleiter Hofer im Südtirol.
Die Nationalsozialisten gingen geschickt vor: die Kontrolle der kulturtragenden Vereine ermöglichte ihnen, gut etablierte Strukturen für ihre Zwecke zu nutzen und die Durchdringung der Volkstanzgruppen, Trachtenvereine, Musikkapellen, Laientheater und des Gesangswesens (wie zuvor im Gau Tirol-Vorarlberg) voranzutreiben. Schließlich bot die Gründung des Standschützenverbandes 1943 (durch Gauleiter Hofer) die Möglichkeit, Zugriff auf jede kleine Kulturveranstaltung zu erlangen. Zur Optimierung der Breitenwirkung der Propaganda wurden auch kleine profane Feiern wie «Liturgien» inszeniert, mit Lesung, Gesang, Musik. Geprägt waren solche Feiern im Stil der «eisernen Romantik», wie es Goebbels vorschwebte, denn gerade Musik war für ihn das ideale Mittel, die Herzen für die NS-Botschaft zu öffnen. Ganz besonders die Nachwuchsförderung war ein geeignetes Mittel der Indoktrinierung. Ebenso wurde in den Musikschulen vorgegangen: die Förderung der musizierenden Jugend war der Königsweg, Linientreue in die Köpfe der jungen Menschen zu pflanzen. Sogar im schulischen Musikunterricht wurde Wert auf «zackiges Singen» gelegt. Eine entsprechende Liedauswahl war selbstredend verlangt. Mitläufer, Informanten und Denunzianten waren an vielen Stellen eingesetzt, um die NS-Überwachung zu ermöglichen.
Sucht man in den Vereins-Chroniken nach Berichten über die NS-Zeit, findet man erstaunlicherweise kaum einen Eintrag, konstatiert Pinggera. Angst und schlechtes Gewissen bewogen viele Chronisten, lieber nicht zu viel zu dokumentieren oder nachträglich wieder zu löschen. Und so wird ein Neustart vieler Vereine auf die Jahre nach dem Krieg verlegt. War die Behinderung des Musizierens der Kapellen und der Chöre in der Zeit des italienischen Faschismus noch allen schmerzlich bewusst, wird rückblickend in den Chroniken gerne ausführlich dargestellt, wie die Vereine «nach dem Krieg» neu aufgebaut wurden, die Wiederaufnahme der Aktivitäten während des NS-Zeit aber gerne verschwiegen.
Bei Kriegsende war der Spuk allerdings nicht vorbei: Viele Nazi-Größen konnten mithilfe von Helfern und sogar von sympathisierenden Priestern über das Südtirol nach Argentinien fliehen, bevor man ihrer habhaft werden konnte. Unter anderen gelangten Adolf Eichmann oder KZ-Arzt Josef Mengele auf diese Weise problemlos in ein sicheres Exil. Und auch heute sind nicht alle «braunen Flecken» verschwunden: nur zögerlich setzt sich mancher Kulturverein mit seiner Position während der NS-Zeit auseinander und es werden (unreflektiert oder die Tatsachen negierend) die Werke eines großen Nazi-Sympathisanten noch immer gerne gespielt, der sich dem Regime bereitwilligst andiente: Sepp Tanzer.

Zitierweise:
Thurnher, Thurnher: Rezension zu: Pinggera, Mario: Musik und Kirche unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol (Schriftenreihe der Theologischen Hochschule Chur 12), Basel 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 451-454. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

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