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Titel
Unser Rousseau. Wie ein Genfer Uhrmachersohn die Aufklärung überwand und sie damit vollendete


Autor(en)
Appel, Sabine
Erschienen
Berlin 2021: Die Andere Bibliothek
Anzahl Seiten
381 S.
von
Andreas Burri

Literatur kann nicht von der Biografie der Person, die sie verfasst hat, getrennt werden. Besonders bei Rousseau sind diesbezüglich Fragen aufgekommen, insofern sein Leben wiederholt in auffallender Diskrepanz zu seinem Schreiben steht: «der Träumer, der Müßiggänger, der Subjektivist, der unfruchtbare Kulturkritiker Rousseau, der Verfasser einer großen Erziehungslehre, der seine fünf unehelichen Kinder ins Findelhaus gab, um sie nie mehr wiederzusehen und auch nicht wiedersehen zu wollen, der Verfasser des Contrat Social, der sich nicht nur nicht im Geringsten in Staat und Gesellschaft einzuordnen wußte, sondern der schließlich auch persönlich mit keinem Menschen, und war er ihm noch so wohlgesinnt, auf die Dauer auskommen konnte? Wer aus diesen und ähnlichen auf der Hand liegenden, sagen wir: moralischen Gründen, geneigt ist, mit Rousseau schnell fertig zu werden, mag sich sagen, daß er zwar das 18. Jahrhundert ausgezeichnet, aber Rousseau gar nicht verstanden hat.» (Karl Barth, Die Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte [1947], ed. Zürich 61994, 153f.)
Auch innerhalb seiner Texte werden wiederholt Ambivalenzen und Kontroversen entdeckt. Die Forschung bemüht sich nicht nur um Synthesen, sondern auch um eine verstehende Anteilnahme an seinem Leben und seinem komplizierten Charakter. Neben der bereits zitierten Darstellung Barths in seiner Geschichte der protestanti-schen Theologie im 19. Jahrhundert (1947), die Rousseau das längste Kapitel gibt und leider in der Rousseau-Forschung kaum wahrgenommen wird, sind besonders Cassirers Aufsätze hervorzuheben: Das Problem Jean-Jacques Rousseau (1932), Kant und Rousseau (1939), aber auch die umfassende Philosophie der Aufklärung (1932). Barth und Cassirer interpretieren Rousseaus Schreiben und Leben anhand seiner Epoche, der Aufklärung, und zwar in einer spezifischen Hinsicht: Rousseau als Inbegriff der Aufklärung weist über diese hinaus in die Moderne, nach Cassirer, insofern sein moralischer Individualismus zu Kant, nach Barth, insofern sein Verneinen der Erbsünde und sein damit verbundenes Naturvertrauen zu Goethe führe (vgl. z. B. Barth [ebd.], 160–164, 170–172, 175, 194–205; Cassirer: Kant und Rousseau [1939]). Der Untertitel des nun erschienenen Buches kündigt an, dass sich Appels Studie diesem Narrativ anschließt.
Wir befinden uns in der französischen Kulturgeschichte, geprägt von der theologischen Diskussion um Natur(recht), Gnade, Freiheit und Prädestination, die über die hugenottische Reformation, den Gallikanismus und den Jansenismus in die französische Aufklärung führt. Rousseau bestreitet die Erbsünde, vertritt die natürliche Güte des Menschen, führt aber alles Übel auf diesen zurück, jedoch nicht auf den individuellen, sondern auf den gesellschaftlichen und kulturschaffenden Menschen. Nach Rousseau liegt Religion im freien Herzen, nicht in Büchern, Dogmen, Abstraktionen, Rationalismen. Rousseaus Zögling Émile (in der gleichnamigen Erziehungsschrift) kriegt nur den Robinson Crusoe zu lesen. Botanik und Handwerk werden aufgewertet. Letzteres teilt der Handwerkerssohn Rousseau mit dem Handwerkerssohn Diderot, was sich in diversen Realartikeln in der Encyclopédie niederschlägt. Nicht in den Wissenschaften, nicht in den Künsten, sondern in der Natur findet Rousseaus Mensch seine Güte. In der Gesellschaft, die die Innerlichkeit des Natureinklangs stört, findet der Sündenfall statt. Mehr als seine Gesellschaftskritik in seinen beiden Preisschriften und seine politische Theorie im Contrat Social hat ihn seine Auffassung zur natürlichen Religion in der Profession de foi du Vicaire savoyard im Émile in Konflikt mit den katholischen und protestantischen Kirchen geführt. Appel arbeitet nun heraus, wie Rousseau, der gerne predigte und einst Pfarrer werden wollte, genuin christlich denkt: «Diese Sehnsucht nach den intakten Ursprüngen, die diesen Autor erfüllt, die Utopie, die aus den vermeintlich harmonischen Anfangsgründen hervorgeht, die quasiVergöttlichung der Natur, die eine flächendeckende Wirkung auf das Lebensgefühl und auf die Literatur der kommenden Generationen entfaltete, ist genuin religiös, samt ihren damit verbundenen Erlösungsvisionen. Das muss uns völlig klar sein» (37). Gott ist gut, das Übel kommt vom Menschen, der sich in der Gesellschaft von seiner natürlichen Güte entfremdet, so Rousseau, der dabei autobiographisch deutet: in den Idyllen auf dem Lande, in Charmettes und auf der Petersinsel im Bielersee, erfährt er ein Paradies. Erst mit seinem Schreiben für die Öffentlichkeit und seinem Eintritt in die Gesellschaft sieht er retrospektiv sein Unglück, seinen Unschuldsverlust entstehen; mit seinem literarischen Ruhm sind nur Unruhe, Feindschaft und Vertreibung aufgekommen, aber eben: von außen, der Gesellschaft aufgedrängt, nicht in ihm (vgl. 9, 12, 16f., 20f., 23–29, 35–37, 45f., 48–51, 54f., 57, 59–71, 77, 80, 118, 122, 131, 154–159, 206f., 300–309).
Vor diesem religiösen Fragen nach dem Bösen, der Natur und der Gesellschaft führt Appel ins Zentrum ihrer Interpretation: Rousseaus Genfer bzw. calvinischen Hintergrund. Er erwähnt Calvin eher selten, jedoch oft die Genfer Republik. Aus scheinbar pragmatischen Gründen ist er als junger Mann zum Katholizismus konvertiert, dann wieder zum Calvinismus, was Appel eher als patriotischen denn als religiöskonfessionellen Akt deutet. Doch zeigt sie, wie er maßgeblich von calvinischem Denken geprägt ist: Neben konkreten soziopolitischen Vorstellungen wie Gewaltenteilung, bürgerlicher Gleichheit, Tugendethik und puritanischen Absagen an kulturelle Praktiken wie Theater (wiewohl er selbst eine Oper schrieb), ist es v. a. der Trost, den er in seinem Prädestinations- und Auserwählungsglauben findet. Die vermeintliche Verschwörung gegen ihn sieht er im Ratschluss Gottes verortet, der wolle, dass er unschuldig leide, um ihm das verlorene Paradies – Innerlichkeit in der Natur – zu zeigen. Hier anzureihen sind seine Confessions, die nebst dem Titel den augustinisch-protestantischen Kontext auch treffen, insofern er hier performativ seine Gewissensethik auf den Punkt bringt. Die große Differenz zum Protestantismus der Frühen Neuzeit tut sich freilich in seiner Ablehnung des Erbsündendogmas auf: Er ortet die Sünde nicht in der Individualität, sondern in der gesellschaftlichen Entfremdung, wo durch Künste avaritia und durch Wissenschaften superbia gedeihen. Er beschreibt, wie ihn dieser Gedanke auf dem Weg zu einem Besuch des inhaftierten Diderots traf, auf eine Art und Weise, von der Appel sagt, dass sie als «ein Erweckungserlebnis» (131) verstanden werden muss. Auch betont sie, dass seine Gedanken, die unsere soziopolitische Gegenwart geprägt haben, christlichen Ursprungs sind.
Rousseau war ein tiefreligiöser Mensch, und seine Vorstellungen von Gleichheit und von Gerechtigkeit, von Moralität, von der menschlichen Freiheit und von der notwendigen Umkehr einer vom Wege abgewichenen Menschheit mit der Aussicht auf säkulare Erlösung, sein Tugendbegriff, seine Vorstellung vom Gemeinwillen und von einer universellen Gesetzgebung, seine Einheitsträume und seine Geschichtsphilosophie haben eine eminent christliche Basis.» (196)
Der Kern Rousseaus Denken und Empfinden ist christlich, und dieser Kern ist ihm derart wichtig, dass er mit der Spätaufklärung in Paris brach, als er ihn durch sie kompromittiert sah.
«Gott war gut und gerecht, das Leben war eine Prüfung, alles folgte mit Notwendigkeit den vorher erlassenen göttlichen Ratschlüssen, alles Leiden wurde belohnt und löste sich letztendlich auf in göttlicher Liebe, nichts war umsonst, auch die schlimmsten Martern des Erdendaseins hatten einen höheren Sinn – ohne diesen Glauben konnte Rousseau nicht leben. Dass er in den berühmten Salons von Paris auf die radikalsten Freigeister seiner Epoche stieß, die nicht nur die Unterdrückungsmechanismen der christlichen Kirchen anprangerten, also den Machtmissbrauch ihrer Institutionen, sondern die in ihren materialistischen Weltbildern jede Göttlichkeit und jede Metaphysik ausschlossen und das Glückversprechen, das der erlösungsbedürftige Mensch in den Religionen fand, als Illusion bezeichneten, hat ihn weit tiefer in seinem Selbstverständnis getroffen als jede kulturelle Differenz im Frankreich des Ancien Régime.» (95f.)
Auch Voltaire wehrt sich gegen den Atheismus; er und Rousseau sehen ohne religiöses Fundament keine konkrete Ethik realisierbar. Émile wird besonders vor der Trostlosigkeit des Atheismus gewarnt, nicht vor moralischen Verfehlungen. Das innere Gewissen sagt, was gut und was schlecht ist; der Skeptizismus aber relativiert alles und damit auch die Moral; ein Staat ohne Religion zerfällt. Appel zeigt damit auch den religiösen Hintergrund Rousseaus staatstheoretischen Schlüsselbegriffs, der volonté générale. Die Religionskritik ist für Rousseau nur nützlich, insofern sie hilft, sich nicht in dogmatische und ekklesiologische Spaltereien zu verlieren. So hat er keine Probleme, sich in eine konkrete réligion civile – dem reformierten Genfer Bekenntnis – einzufügen, solange seine Privatreligion davon nicht betroffen ist. Die réligion civile Rousseaus erscheint Appel hier als Notbehelf, um zu erklären, woher der Gemeinwille seine Allgemeingültigkeit nimmt. Sie sagt, dass er sich hier an entscheidender Stelle vom Protestantismus abwendet, bei der Willensfreiheit: «Aufschlussreich ist es, dass Rousseau den Schlüsselbegriff seiner Staats- und Demokratielehre in letzter Instanz der katholischen Gnadenlehre entnahm, die sich damit bewusst gegen den deterministischen Zug unter anderem des Calvinismus gewandt hat [...]. Rousseau glaubte an die Freiheit des Menschen [...] und damit auch an die Möglichkeit zur Überwindung seiner selbstsüchtigen Abirrungen in den falschen Gesellschaftsformen [...]. Mit Hilfe der ‹volonté générale›, der Sammlung aller guten Kräfte zu einem optimalen Ganzen, das den Erhalt des Staates und der Gemeinschaft im Auge hat, ist ihm nun die Chance gegeben, sie durch Handeln im Rahmen eines mustergültigen Staats- und Gesellschaftsvertrages wiederherzustellen, indem er zunächst zum Staatsbürger wird und die Vereinzelung überwindet.» (267)
Appel interpretiert, dass, wie die christliche Ethik, Rousseaus volonté générale realiter nicht erfüllt werden kann, da der Mensch unvollkommen ist, aber dennoch erstrebt werden muss. So zielt seine sozialpolitische Forderung als messianischer Akt wie das Evangelium auf einen «‹neuen Menschen›» (281). Nach Appel führt Rousseaus religiöses Denken, seine originelle Synthese von protestantischer und katholischer Glaubenstradition, der kulturhistorische Hintergrund der französischen Aufklärung, i. e. die Debatte von Natur, Gnade, Prädestination und Theodizee zur Ethik Kants und damit in die deutsche Moderne.
«Es war eine wahre Verantwortungsethik, die sich untrennbar mit der deutschen Aufklärung verband, die Forderung nach unbedingter Wahrhaftigkeit, aber auch der kritische Blick auf die Brüche und Gefahren von Kultur und Fortschritt, den Immanuel Kant, wie wir sahen, uneingeschränkt von Rousseau übernahm und – im Gegensatz zu so vielen Zeitgenossen – auch richtig deutete.» (365)
Rousseau prägt nach Appel die deutsche Moderne nun aber auch über seine sentimentale Naturtheologie. Denn das religiöse Gewissen äußert sich für ihn in Empfindungen und nicht in Urteilen; rationale Gottesbeweise widersprechen dem Gottesbegriff der Gefühlsreligion. Appel argumentiert, dass es aus diesem Grund Rousseau ist, und nicht der Materialismus der französischen Spätaufklärung, der sich in der deutschen Moderne durchgesetzt hat, wobei er mit seiner Vernunftskepsis wieder eher dem Protestantismus denn dem Katholizismus nahesteht (vgl. 24–26, 29, 33, 36f., 58, 61–65, 74–76, 85–96, 99–104, 110, 118–121, 130f., 142–144, 155–159, 188, 196–198, 208, 210–212, 215–219, 223, 226–231, 233–236, 238–240, 245–247, 251, 255–257, 261, 266–268, 279–281, 283, 297–300, 307, 319–324, 327, 365).
So strukturiert sich Appels Studie in zwei Teile: Die ersten zwei Drittel erarbeiten vor dem kulturhistorischen Hintergrund der französischen Aufklärung einen reformierten Rousseau, der in seiner Gewissensethik, Gesellschaftskritik und Naturaufwertung eine soziopolitische, aber eben religiöse Erlösungslehre formuliert, die zum protestantischen Kant führt. Das letzte Drittel wird mit dem Kapitel «Dialektik der Aufklärung» eingeleitet, eine Anspielung auf das gleichnamige Werk Adornos und Horkheimers von 1944, das diese angesichts des Totalitarismus als Epochenabschluss der Aufklärung geschrieben haben. Hier erklärt Appel, weshalb sie in Rousseau einen Überwinder wie Vollender der Aufklärung sieht. Seine Ablehnung des Erbsündendogmas und sein Glaube an die göttliche Prädestination führen zur Tugendethik Kants. Insofern vollendet er die Aufklärung. Überwinden tut er sie aber in seinem Antirationalismus und Natursentimentalismus, der in der deutschen Moderne auf religiöse Ohren gestoßen ist. Dieser zweite Teil Appels Studie beginnt mit dem Erdbeben von Lissabon 1755, das in der Aufklärung zu intensiven Debatten über die Theodizee geführt hat, auch zwischen Rousseau und Voltaire. Letzterer ist gegen harmonisierende Erklärungsversuche à la ‹Gottes Wege sind unergründlich›; Voltaire fordert Fortschritt durch Vernunft zur Bekämpfung immanenter Leiden. Rousseaus Ansicht kennen wir: «Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme.» (Émile ou De l’Éducation [1762], erster Satz, ed. Charrak [GF 1428], Paris 2009, 45) Es gibt natürliche Übel, aber diese werden erst zu solchen, weil der Mensch in seinem Zivilisationsdrang vergisst, dass die Natur über ihm steht. In Wissenschaft und Kunst entfremdet sich der Mensch von der Natur und empfindet sie daher als Feindin: «Hier liegt der Übergang zu einem Paradigmenwechsel im Blick auf eine Dialektik der Auf¬klärung, auf den Preis des Fortschritts und auf eine Rückbesinnung, wie sie Jean-Jacques Rousseau nachhaltig initiierte.» (308) Nach Rousseau führt die Aufklärung zu einer Vernunftherrschaft, die in ihrer technischen Macht zu einer massiven Bedrohung wird. Hier liegt wieder seine Zivilisationskritik: Normalerweise zielen Dekadenztheorien auf Geld, Genuss etc., aber nicht auf die Künste und Wissenschaften. Solches spekulieren spielerisch freilich auch die Pariser Salons, für Rousseau «aber war die Antwort bitterer Ernst.» (113) In Rousseau, dem Staatstheoretiker und Vernunft- bzw. Fortschrittsskeptiker, kritisiert sich die Aufklärung durch Vernunft selbst. Rousseau ist nicht gegen die Vernunft, sondern gegen deren Herrschaftsanspruch; er lehnt nicht ihre Werte ab – die Freiheit ist die Basis seiner Philosophie –, sondern argumentiert, dass Wissenschaft und Künste in Sittenverfall und Gottlosigkeit führen können, wenn sie zu Selbstsucht bzw. Überheblichkeit führen und damit die elementare ethische Veranlagung – das Mitleid – dämpfen. Diese Veranlagung verortet Rousseau daher nicht im Verstand, sondern im Gefühl, das sich erst im Einklang mit der Natur als Selbstgenügsamkeit herausbildet, insofern nur sie den Menschen sich selbst in seiner natürlichen Güte sein lässt. In seinem Liebesroman Julie ist es die Gesellschaft, die in ihrer Künstlichkeit das Paar teilt, das Gott zusammengefügt hat.
«Aber er hat das Denken, das zu all diesen Entwicklungen führte, ursächlich analysiert, sowie auf nahezu prophetische Weise mahnend vor Augen geführt. Das Erdbeben von Lissabon ist dafür nicht unbedingt ein geeignetes Anschauungsbeispiel, auch wenn es die menschengemachte Welt – und damit auch die Menschen – unter sich begrub und dadurch, neben den Glaubenszweifeln, zumindest eine gewisse Demut vor der Natur bei den Menschen zurückließ, die der Calvinist Rousseau positiv deutete.» (309)
Rousseaus christliches Denken hat den Naturbegriff religiös aufgewertet, so dass dieser von der deutschen Moderne enthusiastisch aufgenommen wird. Insofern auch seine Naturtheologie von der gleichen Grundidee herrührt wie seine Tugendethik – dass der Mensch in sich von Natur aus gut ist und seine Verfehlung in der zivilisatorischen Entfremdung von der Natur liegt – hat Rousseau die Aufklärung überwunden und sie damit vollendet (vgl. 7f., 24–26, 29, 36f., 97f., 110–112, 118–123, 132–135, 137, 140, 142, 156, 174f., 177, 222f., 225, 230f., 233–236, 251, 260f., 282–285, 307–317, 319–324, 344–347, 355, 366).
Dies sind die zwei Teile der Studie; in wesentlichen Schritten folgt sie der Deutung Cassirers, den sie auch explizit ausweist. Sie kommt dabei auch auf diverse andere Themen zu sprechen, die in der Rousseau-Forschung immer wieder auftauchen. Abschließend gehen wir auf zwei Punkte davon ein: Erstens erklärt Appel, dass Rousseau in seinem Gesellschaftsbild trotz seiner Aufnahme elementarer Werte der Spätaufklärung im Grunde konservativ bleibt; die Französische Revolution hätte er wohl nicht gutgeheißen.
«Es ist aber das Werk eines Denkers, der jeden Fortschrittsglauben für obsolet erklärt hat. Ja, diese Ungereimtheiten bestehen bis heute in der Rousseau-Rezeption, weshalb es so schwierig ist, ihn geradlinig in die Tradition der Demokratiebewegungen einzuordnen, wie es gemeinhin auf einer oberflächlichen Rezeptionslinie mit linkem Duktus geschieht. Möglich ist das nur, wenn man Rousseaus kulturelle und zivilisatorische Grundannahmen komplett ignoriert.» (281)
Zweitens teilt Appel mit Cassirer und Barth das sympathische Bemühen, sich dem konkreten Menschen Rousseau anzunehmen, der es sozial wirklich nicht einfach hatte, und gerne einfach bei der Musik geblieben wäre. Seine erste Publikation ist die Abhandlung über die moderne Musik (1743). «Rousseau wollte eigentlich die Musik revolutionieren und nicht die Gesellschaft, aber damit drang er nicht durch.» (77) Appel nimmt diesen Wunsch Rousseaus dermaßen ernst, dass sie erwägt, ihn an die Grundlage seines Schaffens zu stellen: «Es ist nicht ausgeschlossen, dass Rousseaus Blick auf die Gesellschaft und auf die Zivilisation ein anderer gewesen wäre, wenn er mit seiner Musik in Paris Erfolg gehabt hätte.» (127) Wie Barth und Cassirer zeigt also auch Appel in ihrer Interpretation, dass wir mit Rousseau einen Denker vor uns haben, dessen Herz in seinem Werk offen liegt, und der erst hier philosophisch verstanden werden kann (vgl. 14, 77, 82, 99f., 112, 123f., 127, 135, 142f., 146, 158, 184, 188, 190f., 280f).
Unsererseits gibt es inhaltlich nichts zu kritisieren. Es ist eine Studie, die dem ganzen Rousseau gerecht werden will und dennoch ihrer Interpretation folgend einen klaren roten Faden zieht. Es ist eine sehr intelligente, einfühlsame Studie zu einem schwierigen Denker, verbunden mit einem noch schwierigeren Menschen. Appel wird beiden gerecht. Sie gewinnt auch da¬durch an Exzellenz, als sie stets wieder Rousseaus wie ihre eigenen Thesen diskutiert, relativiert und die an Rousseau gewonnenen philosophischen, theologischen, kulturhistorischen, soziopolitischen Erkenntnisse kritisch auf unsere Zeit anwendet (vgl. z. B. 25f., 35f., 219f.). Nun aber definitiv abschließend, muss an die Edition noch Lob gesprochen werden: Der Text im Buch ist umrahmt von diversen Malereien, die den kulturhistorischen Inhalt dieser Rousseau-Interpretation gebührend halten.

Zitierweise:
Burri, Andreas: Rezension zu: Appel, Sabine: Unser Rousseau. Wie ein Genfer Uhrmachersohn die Aufklärung überwand und sie damit vollendete, Berlin 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 436-441. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

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