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Titel
Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken


Autor(en)
Bayreuther, Rainer
Erschienen
München 2021: -
Anzahl Seiten
250 S.
von
Thomas Thurnher; Thomas Thurnher

Der deutsche Musikwissenschaftler, Theologe und Philosoph Rainer Bayreuther weist in seinem Buch «Der Sound Gottes» der Kirchenmusik eine neue Rolle zu, die der veränderten Situation der Kirche und des Glaubens gerecht werden will. Er regt dazu an, sie ganz neu zu denken.
Kirchenmusik sei mit einem bequemen Ohrensessel vergleichbar, in dem wir sehr lange schon tief eingesunken sitzen, meint der Autor am Eingang seines Buches. Doch: weil wir mit schönen Werken umgeben gut gepolstert und komfortabel hören, haben wir vergessen, uns auch einmal zu rühren. Und nun tun uns bei jeder Bewegung alle Knochen weh und das führt dazu, dass wir uns lieber gar nicht mehr bewegen und alles so lassen, wie es ist.
«Alte Schlachtrösser» nennt Bayreuther die großen Werke der Kirchenmusik, die nach Art eines Kanons die Kirchenkonzerte beherrschen, und er merkt mit spitzer Feder an, dass die Phantasielosigkeit auf den kirchenmusikalischen Programmzetteln nicht das eigentliche Problem sei. «Die Kirchenmusik ist mittlerweile fündig geworden, die ganze Kirchenmusik zu bespielen. Musik aus dem Mittelalter, aus der Moderne oder aus dem Pop ist kein Tabu mehr. Wir werden sogar sehen, dass es tief im Wesen der Kirchenmusik liegt, ihr Repertoire ständig zu entgrenzen und zeitgemäß zu halten. Kirchenmusiker und Pfarrer finden selbstverständlich Händel erhebend und Mozart göttlich und geben augenzwinkernd zu, dass sie auch schon mal inkognito {zum Open Air Metal-Festival} nach Wacken fahren. Religiöse Erfahrungen machen sie hier wie dort nicht, und wenn ein ganz klein wenig doch, dann eher dort als hier.»
Aber in der Kirche? Rechnen wir tatsächlich mit einer Begegnung mit Gott in der Kirche, fragt sich der Autor und führt aus, wie allein der Messritus die Erwartung einer Gottesbegegnung bedingt. In der katholischen Kirche würde vorausgesetzt, dass der verborgene Gott in jeder Messe anwesend sei, während die evangelische Kirche ihre Gottesdienste eher wie eine Art Gedächtnisfeier betrachte. Das habe, so Bayreuther, auch gravierende Folgen für die Kirchenmusik. Im katholischen Ritus würden die Ordinariumsteile Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei wie kleine Heiligtümer betrachtet, auf die liturgisch hingesteuert würde, während im protestantischen Ritus die Stellen, an denen Musik möglich ist, mehr offen gesehen würden. Es sei an manchen Orten ein Lied, eine ganze Kantate oder auch nur ein Gedicht möglich. Wie «Slots» seien diese Stellen angelegt, in die dann «eine passende Münze» eingeworfen werden könne. Meist seien es aber Lieder, die diese «Slots» bedienen würden. Und es seien Lieder «von Menschen für Menschen», also nicht göttlich offenbarte Musik, sondern vertonte Gedichte, die die Gemeinde belehren und erbauen sollten, das habe Reformator Martin Luther schon zu Beginn festgelegt. Und schleichend sei das evangelische Lied mit seinem protestantischen Geist auch in die katholische Messfeier gedrungen.
Was ist aber nun der «Sound Gottes»? Ist er in besonderen Momenten vernehmbar, wie Aurelianus Reomensis im 9. Jahrhundert in seiner «musica disciplina» berichtet, als er den nächtlichen Choral der Mönche für den Gesang der Engel und somit für eine Offenbarung des Gottesreiches hielt? Oder steckt der Klang Gottes in der Musik der Menschen und hebt deren Worte und Töne auf eine höhere Ebene? Ist er wie ein Pegel des Heiligen in der psychischen Erregung beim Musikhören messbar, wie Schleiermacher oder Herder definieren? Oder kann uns der «Sound Gottes» unerwartet begegnen, wie im Knacken eines Zweiges in der Stille der Natur oder im kol-lektiven Musik-Erleben bei einem Lobpreis-Konzert?
Nun kommt der Autor zu seiner ersten großen These: Jesus ist der Logos! Was Jesus sagt, sagt Gott. Wo Jesus ist, ist Gott. Daher ist das Wort Jesu der Sprachklang Gottes! «Wort Jesu – das ist der Sound Gottes», ruft er aus und führt dann aus, dass bereits im Judentum das Vorlesen, das laute Deklamieren, also das Hören auf das Wort Gottes eine zentrale Erfahrung war und noch immer ist. «Gottesdienst ist da, wo und wann und wie durch wen Gott sich selbst verkündet» (Karl Barth). Und deshalb muss es uns gelingen, das Gottesdienstliche, das Kultische, ja das Heilige dieser wahrhaft unbegrenzten, daher aber auch schwer greifbaren Selbstverkündigung Gottes zu fassen. «Sie hören ihren Herrn» ... «die nun gotshüldig vnd glöubig sind / die hörend allein iren herren / [...] das sy ein fröud [...] allein sin stimm zehören / unnd mit ynbrünstiger liebe schryend / Din stymm soll tönen in minen oren.» hält Huldrych Zwingli in seiner Schrift «Vom warem und valschen Glouben» fest.
Die Kirchenmusik will hier ihre Dienste anbieten. Sie will den Geist Gottes mit ihren Möglichkeiten den Menschen nahebringen, stellt Bayreuther fest. Allerdings habe sie sich lange damit abgefunden, für Gott zu tönen. Nun gehe es darum, dass Gott selber tönt. Kirchenmusik solle die Anwesenheit Gottes erfahrbar machen, seine Nähe ermöglichen, und das würde zur spannenden Aufgabe, fasst der Autor zusammen. Sie müsse die Seite wechseln! Dabei seien die Medien nicht der Kontrapunkt der Kirchenmusik, wie bisher angenommen, nein, sie hätten die Fähigkeit, den «Sound Gottes» zu transportieren.
Bayreuther führt nun in großem Bogen aus, wie die alten Griechen dem Bewegen aller Glieder (= melea) im Tanz auch die Bausteine der Musik (gleichfalls melea, Musikglieder) gleichsetzten und so zur Melea-Odie, zur gegliederten Musik, also zur ‹Melodie› kamen. Das war ein durch und durch bewegter Reigen der Musik- und Körper-Glieder in einer durch und durch erlebten Musik. Und so, meint der Autor, müsste auch ein Durchleben der Musik vor Gott sein, in dem der Mensch sich mit all seinen melea innerlich wie äußerlich bewegt und dabei gleichzeitig von Gott bewegt wird. Er sei dann nicht nur selber Akteur, sondern würde sich in der von Gott zurücktönenden Melodie bewegen.

Es sei nämlich nicht so, dass wir Christenmenschen erst Lob und Dank anstimmen müssen, und dass Gott dann schon dazukomme, sondern es sei ein Wechselspiel von menschlichem und göttlichem Klang, in dem sich der Mensch bewegt. Nur: planen, veranstalten, erwarten lasse sich so ein Rühren der melea im göttlichen Klang nicht: «Der ‹Sound Gottes› weht, wo er will. Er kommt wie ein Dieb in der Nacht (Matthäus 24,43). Er weht, wo er will (Johannes 3,8). Er kommt wie Frühregen und Spätregen, zur rechten Zeit (Jeremia 5,24)», meint der Autor.
Was wir beim Musikmachen oder hören emotional fühlen, hängt wesentlich von unseren Wünschen ab. Wir müssen uns den Gottesklang wünschen, ihn erhoffen. Und: wenn wir uns für den ‹Sound Gottes› öffnen, sind wir empfänglicher, beweglicher, offener für seine Botschaft. Damit ändert sich allerdings die Situation der Kirchenmusik: alle (Akteure wie Hörer, Ausführende wie Anwesende) können «mit ihren Gliedern Mit(tel)glied am Ereignis werden».
Dafür sei es aber hilfreich, wenn wir die Musik aus ihrem Zusammenhang, aus ihrem Ort, aus ihrem Slot herausreißen. Die Musik stehe dann zwar unter Umständen «ungemütlich im Regen», aber wir erhielten eine Chance, sie ganz neu zu hören. «Die frische Luft wird guttun. Kirchenmusiker musiziert sie, so entfesselt ihr könnt!» – ruft Bayreuther den Musikern zu, die sich auf dieses Abenteuer einlassen wollen und er ermutigt auch, über die Grenzen der Musik-Genres zu springen: «Die Spreu wird sich vom Weizen trennen!»Kirche und traditionelle Kirchenmusik erlebten derzeit ihre Abenddämmerung, meint er. Doch: «Auf den Abend wird ein neuer Morgen folgen, allerdings in völlig veränderter Gestalt, in der es weder ‹Kirche› noch ‹Kultus› noch ‹liturgische Musik› nach heutigen Maßstäben geben wird», so Bayreuther.
«Die christliche Religion hat das Konstrukt des immerwährenden Gottesdienstes erfunden. Dieser Gottesdienst ist natürlich keine Veranstaltung. Er ereignet sich nicht. Er ist eine Eigenschaft, die ein Mensch erwirbt, indem er seine Rechtfertigung durch Glauben annimmt. Dann hat er sie auch, immer und überall. Dank dieser Eigenschaft kann ein Christ loben und danken, weinen und klagen. Er kann konkrete Gottesdienste veranstalten und Kirchenmusik aufführen. Dass Gott offenbar und präsent ist, ist eine Bedingung der Möglichkeiten für solche Ereignisse. Und zwar die Bedingung, die nicht im Moment des Ereignisses erfüllt sein wird, sondern längst und immer schon erfüllt ist in der Person Jesus Christus», meint der Autor. In seinem Feuereifer für eine neue Art der Gottesbegegnung wünscht er sich anstelle der herkömmlichen Gottesdienste «Sound-Ereignisse»! Der Klang – ist das Gott? Dies fragt sich Bayreuther in der conclusio und regt mit seiner Schrift an, dass sich der «Sound Gottes» so oft und so eindrücklich wie nur möglich ereigne. Dieses Buch lehrt die Gott-Suche, könnte als Résumé gesagt werden.

Zitierweise:
Thurnher, Thomas: Bayreuther, Rainer: Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken, München2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 488-490. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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