H. F. Haefele u.a. (Hg.): Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten

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Titel
Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten.


Herausgeber
Haefele, Hans F.; Tremp, Ernst
Reihe
Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim edit
Erschienen
Wiesbaden 2020: Harrassowitz
Anzahl Seiten
688 S.
von
Konrad Wanner, Staatsarchiv Luzern

Die um die Mitte des 11. Jh. entstandenen «Klostergeschichten» des St. Galler Mönchs Ekkehart, in denen Ereignisse aus der Zeit vom späten 9. Jahrhundert bis 972 erzählt werden, sind zweifellos eines der bekanntesten Geschichtswerke des europäischen Früh- und Hochmittelalters. Doch vermisste man seit langem eine gründliche Neuedition, welche an die Stelle der in jeder Hinsicht veralteten Ausgabe Gerold Meyers von Knonau von 1877 und dessen Übersetzung von 1878 treten könnte. 1980 legte der damalige Zürcher Ordinarius für Mittellatein, Hans F. Haefele, in der Reihe der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgaben einen neu erarbeiteten Text und eine elegante Übersetzung vor. Allerdings betrachtete er diese Publikation nicht als seine endgültige Edition und beschränkte sich deshalb in der Einleitung und im Anmerkungsapparat auf die allernötigsten Angaben. Eine lange Krank¬heit, der er schliesslich 1997 erlag, verunmöglichte es ihm jedoch, das Projekt zu En¬de zu führen. Diese Aufgabe übernahm in der Folge der Freiburger Mediävist und St. Gal¬ler Stiftsbibliothekar Ernst Tremp, der mit der nun vorliegenden Ausgabe das definitive Ergebnis seiner eigenen Arbeit und derjenigen Haefeles präsentiert.
Als Geschichtswerk ist Ekkeharts Opus insofern besonders, als darin weniger die äussere Geschichte der Abtei als das innere Leben der Klostergemeinschaft und deren Interaktionen mit den Äbten im Mittelpunkt steht. Offensichtlich ging es Ekkehart dabei vor allem darum, die traditionelle Lebensweise des Konvents zu rechtfertigen, die er in seiner eigenen Zeit von dem ungeliebten Abt Norbert von Stablo und anderen Anhängern der monastischen Reformbewegungen bedroht sah. Er hebt die Frömmigkeit der früheren Mönchsgenerationen hervor, rühmt deren Gewissenhaftigkeit bei der Einhaltung der Benediktsregel und schildert ausführlich, wie bereits zu ihrer Zeit Reformfreunde gegen das Galluskloster intrigierten, wie sich deren Verdächtigungen angeblich stets in Luft auflösten, wenn sie untersucht wurden, und wie das Gotteshaus dadurch erst recht an Ansehen gewann.
Dem gleichen Anliegen dienen die zahlreichen, anekdotisch gewürzten Schilderungen von Persönlichkeiten, welche für uns heute den grössten Reiz des Werks ausmachen, so etwa des 993 kanonisierten Ulrich von Augsburg und anderer mit dem Kloster befreundeter Bischöfe und Äbte, die einst in jungen Jahren die Klosterschule besucht hatten. Von speziellem Interesse sind die zahlreichen Charakterskizzen von herausragenden Konventualen, ganz besonders von Ekkeharts Vorgängern als Lehrer an der Klosterschule sowie von Künstlern, Sequenzendichtern und Musikern, über deren Biografie wir aus anderen Quellen wenig erfahren. In ihnen sieht er eine Begnadung, welche nicht nur in ihren kulturellen Leistungen, sondern gleichermassen in ihrer Frömmigkeit und in der Einhaltung der monastischen Disziplin zum Ausdruck gekommen sei. Sogar von Heiligkeit ist manchmal die Rede, und einige der Mönche sollen zu Lebzeiten Wunder bewirkt haben.
Bei all dem ist die Darstellung keineswegs naiv. Ekkehart beweist Sinn für Ambivalentes in den Charakteren. Er schildert Eifersucht und Hinterlist auch von solchen, die er bewundert, spricht von Fehltritten, aus denen die Vorsehung am Ende Gutes erwachsen lässt, und deutet sogar ein paar Schwachpunkte in den traditionel-len Praktiken seines Klosters an. Das Neben- und Nacheinander von Verfehlungen und Frömmigkeit war in seiner Gedankenwelt zumindest teilweise mit der von Boethius entlehnten Vorstellung vom unaufhörlichen Wechsel der Glücks- und Unglücksfälle verknüpft, die so etwas wie den – locker ein¬gezogenen – roten Faden des Werks bildet.
Ein grosser Teil des Erzählten scheint auf Reminiszenzen von älteren Mitbrüdern zu beruhen, welche zum Zeitpunkt der Niederschrift längst tot waren, oder auf mündlichen Traditionen, die noch weiter zurückgingen. Dass dabei zahllose Erinnerungsfehler und Missverständnisse miteinflossen, war kaum zu vermeiden. Ekkehart äussert an einigen Stellen selbst Zweifel oder versucht, naheliegenden Zweifeln vorzubauen, war aber ein zu engagierter Erzähler, um das, was er gerne für wahr gehalten hätte und was eine gute Geschichte ergab, nicht auch für wahr zu halten.
Lassen sich die «Klostergeschichten» also nur mit Vorsicht als historische Quelle lesen, dann um so eher als «Selbstmitteilung» Ekkeharts, der als älterer Mann – als Letzter in einer langen Reihe brillanter Gallusmönche und ein wenig aus der Zeit gefallen – Rückschau hielt und dabei weder mit seiner Abneigung gegen die Reformbewegung noch mit seinen Vorstellungen von Religiosität und klösterlicher Disziplin noch mit seinem übrigen Weltbild hinter dem Berg hielt. Darüber hinaus besticht das Werk durch seine literarische Qualität, durch das gepflegte, von Anklängen an die Bibel und an klassische Autoren durch¬zogene Latein und die durchdachte Erzählweise, die auch in der sorgfältigen, gut les¬baren Übersetzung zu erkennen ist.
Gerade diese literarische Qualität wird in der neuen Ausgabe so deutlich wie nie zuvor, dies dank Tremps ausführlicher Einleitung, in der er auf alle wesentlichen Aspekte des Werks eingeht, und dank der grossen Zahl seiner konzisen Sachanmerkungen, in denen er Zitate und Anklänge erschöpfend nachweist und bei Bedarf sprachliche Erläuterungen gibt. Sehr viele Anmerkungen waren notwendig, um auf Ekkeharts Irrtümer hinzuweisen. Weitere Fussnoten erhellen Hintergründe oder dienen der historischen Einordnung des Berichteten.
Der lateinische Text und die Übersetzung der Ausgabe von 1980 wurden von Tremp und seiner Mitarbeiterin Franziska Schnoor intensiv überprüft. Die Textanmerkungen sind stark vermehrt worden und können umso leichter nachvollzogen werden, als über ecodices alle Handschriften online zugänglich sind. Die Übersetzung hat Tremp punktuell durch neue Nuancen bereichert, lässt sie aber im Grossen und Ganzen unverändert. Ein eindrückliches Verzeichnis der von Ekkehart verwendeten und zitierten Werke, ein umfangreiches Wortregister sowie weitere Register schliessen den höchst erfreulichen Band ab, der zweifellos für lange Zeit die Standardausgabe von Ekkeharts «Klostergeschichten» bleiben wird.

Zitierweise:
Wanner, Konrad: Rezension zu: Haefele, Hans F.; Tremp, Ernst (Hg.), Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli) unter Mitarbeit von Franziska Schnoor (MGH - Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 82), Wiesbaden 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 465-467. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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