P. Krauer: Swiss Mercenaries in the Dutch East Indies

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Titel
Swiss Mercenaries in the Dutch East Indies. A Transimperial History of Military Labour, 1848–1914


Autor(en)
Krauer, Philipp
Reihe
Global Connections: Routes and Roots
Erschienen
Leiden 2024: Leiden University
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 104,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Koloniale Beziehungen sind seit einiger Zeit auch in der Schweiz vermehrt ein Thema geworden. In besonders weitgehenden Beiträgen geht es um den Nachweis, dass die Schweiz, obwohl sie formal keine Kolonialmacht war und deswegen heute gemeinhin für „unschuldig“ bzw. nicht verantwortlich erklärt wird, tatsächlich jedoch Ausgangs- und Endpunkt substanzieller privater Beteiligungen am europäischen Kolonialismus war. Philipp Krauer befasst sich in seiner in den Jahren 2017–2021 am ETH/ZH-Lehrstuhl von Harald Fischer-Tiné entstandenen Studie mit einer dieser Varianten des schweizerischen Kolonialengagements, das heisst mit den 5'800 schweizerischen Söldnern, die von 1848 bis 1914 in Ostindien (heute Indonesien) innerhalb der niederländischen Kolonialarmee als „Tools of Empire“ Dienst geleistet haben.

Krauer versteht seine Arbeit als doppelten Forschungsbeitrag: erstens zur auf sozialgeschichtliche Fragen ausgerichteten und „von unten“ betrachteten Militärgeschichte und zweitens zur Geschichte des Imperialismus, die sich neben der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung neuerdings ebenso für die kulturelle Dimension interessiert und imperiale Herrschaft nicht nur aus der nationalen Perspektive betrachtet, sondern auch ihre transnationale Natur erfasst. Eindrücklich wird dies an einem scheinbar wenig gewichtigen Vorgang aufgezeigt, nämlich an den Vergütungen für die kolonialen Solddienste, die eine internationale Kooperation zwischen schweizerischen und niederländischen Behörden sowie juristischen Kanzleien und Banken erforderte (S. 95ff.). Von 1848 bis 1914 wurden für 799 wieder in der Schweiz wohnhafte ehemalige Söldner Pensionen und Gratifikationen in der Höhe von etwa 123 Mio. Franken (nach heutigem Wert) überwiesen (S. 107).

Zwei anschauliche Grafiken geben einen Überblick über das Ausmass der europäischen Beteilungen am Söldnerwesen der Jahre 1815–1915 (S. 32) und über die multinationalen Anteile an der niederländischen Kolonialarmee (S. 39). Wiederholt wird auch auf die bekanntere Geschichte der französischen Fremdenlegion hingewiesen (etwa S. 32ff., 50, 61). Die Studie führt die bis 1859 unter traditionellen Bedingungen praktizierte Söldnergeschichte weiter und zeigt, in welchem Rahmen die „Fremden Dienste“ fortgeführt wurden: statt in regulären Regimentern, die vor allem in Europa eingesetzt und inzwischen vom modernen Schweizer Bundesstaat verboten worden waren, neu in einem transimperialen Arbeitsmarkt, in dem nun über individuelle Kontrakte der Bedarf an Kolonialsoldaten aus dem europäischen „Hinterland“ gedeckt wurde.

Entstanden ist eine dichte Darlegung zu drei Fragebereichen: erstens zur Bereitschaft, sich auf diese spezifische Art der Auswanderung einzulassen, zweitens zu den Lebensbedingungen während des Dienstes in der Kolonialarmee und drittens zu den weiteren Lebensläufen nach Beendigung der Dienstzeit. Die Recherchen zu den Gründen und Motiven für die Bereitschaft, in Niederländisch-Ostindien Kriegsdienst zu leisten, zeigen, dass sie weitgehend den aus der schweizerischen Migrationsgeschichte bekannten Voraussetzungen entsprechen: Begünstigend wirkten sich hierbei etwa eine existenzielle Not, eine schwache Integration oder Abenteuerlust aus. Speziell hinzu kam, zumindest als deklariertes Motiv, die Vorstellung, mit der Ausübung des Kriegshandwerks eine als ehrenvoll verstandene Tradition weiterzuführen. Kolonialdienst wurde teilweise als die bessere und vermeintlich weniger gefährliche Alternative zur Auswanderung nach Amerika gesehen – dies obwohl gegen die Hälfte der Söldner den Kolonialdienst nicht überlebte (S. 76).

Die Ausführungen zum zweiten Fragebereich geben Auskunft über die Entlöhnung dieser Dienste und die Verwendung des Soldes etwa zur Unterstützung von Angehörigen in der Schweiz (S. 88), über die Einordnung in die teilweise durch nationale, teilweise durch ethnische Kriterien konstruierten Hierarchien (S. 69), über den Alkoholkonsum, den Umgang mit der Sexualität und das Eingehen familienähnlicher Lebensgemeinschaften (S. 83). Im Kapitel über die Zeit nach der Rückkehr aus Niederländisch-Ostindien ist von besonderem Interesse, wie die kollektive Vorstellung von der kolonialen Welt im Heimatland durch die Erlebnisberichte der Söldner mitgeprägt wurde. Diese Berichte bekräftigten die Vorstellung von der Überlegenheit der Europäer gegenüber den Javanern und Javanerinnen. Sie ergingen sich zum Teil aber auch in romantisierenden Schilderungen naturnaher und nicht von der Industrialisierung korrumpierter Lebensweisen (S. 130). Neben offiziellen Quellen der schweizerischen und niederländischen Behörden und einigen Presseberichten werden hierfür vor allem die Selbstzeugnisse der Söldner, zum Beispiel Briefe, Tagebücher oder Memoiren, systematisch und eingehend ausgewertet.

Alles in allem sind die Fragestellungen weitgehend auf die schweizerischen und europäischen Verhältnisse ausgerichtet. Wohl quellenbedingt erfährt man nur wenig über die Konsequenzen der unter schweizerischer Beteiligung ausgeübten Kolonialherrschaft. Ohne ausführliche Belege wird dargelegt, dass die Kolonialtruppe die einheimische Bevölkerung als „Wilde“ abqualifizierte, dass sie in „Polizeiaktionen“ und eigentlichen Kriegszügen – beispielsweise im mehrfach erwähnten Aceh-Krieg von 1873 bis 1904 – mit „extremer Gewalt“ vorging, dies in Intervallen zur „friedlichen Koexistenz“, die es offenbar ebenfalls gab. Die Söldner funktionierten als Schutztruppe der ausbeuterischen Plantagenwirtschaft, in der chinesische und javanische Landarbeiter und Landarbeiterinnen, sogenannte „Coolies“, brutalen Arbeitsbedingungen unterworfen waren. Krauer bilanziert: Europäische Unterschichtangehörige, die zu Hause von Gewalt und Unterdrückung betroffen waren, betätigten sich in den Kolonien selbst als gewalttätige Unterdrücker (S. 80–83, 146–149). Als weitere Schlussfolgerung hält er fest, dass die schweizerischen Söldner das niederländische Kolonialreich zwar nicht geschaffen hätten, aber: „…they fought in many battles across the archipelago with mercenaries from Belgium, Germany, France, Luxembourg and Poland playing a decisive role (sic!) in the violent formation of a colonial state.“ (S. 154)

Die Studie schliesst mit einer Aufzählung von Fragen, die nicht beantwortet wurden bzw. mehrheitlich wegen fehlender Quellen nicht beantwortet werden können. Darunter die Frage, wie die Bevölkerung Sumatras auf die Gewaltausbrüche der Soldtruppe aus Europa reagiert und wie diese Europa, die Niederlande und allenfalls auch die Schweiz wahrgenommen hat. Verwiesen wird auf die Möglichkeit, dazu die Nachkommen mit der Methode der Oral History zu befragen, mit der, obwohl sie Fragen zu weit zurückliegenden Verhältnisse betreffen, gewisse Erkenntnisse gewonnen werden könnten (S. 158).

Krauers Studie zeigt am Fall der schweizerischen Solddienst in Niederländisch-Ostindien auf, wie intensiv die Verflechtungen zwischen der Schweiz und der kolonialen Welt waren. Dies gilt nicht nur für die schweizerische Präsenz im fernen Ausland, sondern auch für ihre zeitgenössische Wahrnehmung im Herkunftsland. Das Wissen darüber ging im Laufe der Zeit verloren und ist nun durch die historische Forschung wieder zurückgeholt worden.

Redaktion
Veröffentlicht am
18.06.2024
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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