M. Prieto: Narratives of Dictatorship in the Age of Revolution

Cover
Title
Narratives of Dictatorship in the Age of Revolution. Emotions, Power and Legitimacy in the Atlantic Space


Author(s)
Prieto, Moisés
Published
London 2023: Routledge
Extent
232 S.
by
Friedemann Pestel, Historisches Seminar, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas, Albert-Ludwig-Universität Freiburg

Moisés Prieto wartet mit einer markanten Ausgangshypothese auf: Das historiografisch ubiquitäre «Zeitalter der Revolution» bildete in der Erfahrung der Zeitgenossen nach 1800 ein «Zeitalter der Diktatur» (S. 7). Dieser in einer solchen Konsequenz und Reichweite noch nicht formulierten Prämisse, die Prieto begleitend zu seiner Monografie auch in einem Sammelband umrissen hat,1 geht er in drei konzeptionellen Richtungen nach: Erstens eröffnet er, über den Fixpunkt Napoléon Bonaparte hinausgehend, eine dezidiert atlantische Perspektive, wie sie der jüngeren Beschäftigung mit dem «Zeitalter der Revolutionen» gegenstandsimmanent geworden ist. Erfreulich breiten Raum nehmen die lateinamerikanischen Diktaturen von Juan Manuel de Rosas in Argentinien, Simón Bolívar in Grosskolumbien, Peru und Bolivien sowie José Gaspar Rodríguez de Francia in Paraguay ein. Schlaglichter auf das postkoloniale Haiti und die südeuropäischen Revolutionsräume wirft Prieto ebenso wie auf Diktaturdebatten in atlantischen Hinterländern wie den deutschen Staaten oder der Schweiz.

Historiografisch gelingt Prieto, zweitens, eine fruchtbare Verbindung verschiedener geografischer Zonen, die neben der anglo-amerikanischen Literatur französische und lateinamerikanische Revolutionsgeschichtsschreibung ebenso abdeckt wie die deutschsprachige Forschung. Bereits dieser historiografische Dialog bietet für das Lesepublikum einen Mehrwert. Bemerkenswert ist auch Prietos Quellenkorpus, das politische und Bildpublizistik, Opern, literarische Verarbeitungen und Historienmalerei dicht, allerdings auch etwas assoziativ und teils eklektisch kombiniert.

Drittens ergeben sich aus den historiografischen Verschränkungen methodische Implikationen: Weder liefert Prieto eine klassische Politikgeschichte von Diktatoren, noch schreibt er ein weiteres Buch über die Wirkungsmacht charismatischer Men on Horseback (David Bell).2 Gegenüber Bell ist Prietos Fokus breiter, analytischer und weniger personenzentriert: Er versteht den Diktator als ein primär diskursives Phänomen, das im frühen 19. Jahrhundert mit unterschiedlichen politischen Absichten und Funktionen im politischen Sprechen narrativiert wurde und keineswegs mit einem pauschal negativen Image behaftet war. Dazu verbindet er eine Zirkulations- und Transfergeschichte, orientiert an der Atlantic History, mit einem von Reinhart Koselleck inspirierten begriffsgeschichtlichen Ansatz zur Sprachfigur des Diktators und emotionsgeschichtlichen Versatzstücken, die auf die Massenwirkung von Diktatoren abheben. Fragen lässt sich hier freilich nach dem Innovationsgehalt einer solchen kollektiven Gefühlsgeschichte gegenüber Paradigmen wie Max Webers klassischer Herrschaftstypologie, politischer Kommunikation oder – allgemeiner – «politischer Kultur».

Massgeblicher ist Prietos an den Geschichtlichen Grundbegriffen, die «Cäsarismus» und «Diktatur» ihrerseits behandelt haben, orientierte These eines grundlegenden Bedeutungswandels des «Diktators» in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus dem römischen Modell einer situationsbedingten, begrenzten Alleinherrschaft entwickelte sich der Diktator zum a priori zeitlich unbegrenzten Inhaber ausserordentlicher Machtbefugnisse unter dem Eindruck einer historischen Beschleunigungserfahrung. Prieto greift hier mit tels Koselleck auf Carl Schmitts idealtypische, seinerzeit ebenfalls unter dem Eindruck einer Revolution formulierte Unterscheidung von «kommissarischer» und «souveräner» Diktatur aus dem Jahr 1921 zurück. Eine stärkere Historisierung dieser ideengeschichtlichen wie personellen Theoriekonstellation wäre allerdings angebracht gewesen.3 Auch das im Buchtitel von Robert Palmer und Eric Hobsbawm entlehnte «Zeitalter der Revolution» erwiese sich im Plural des «Zeitalters der Revolutionen» als historiografisch anschlussfähiger.4

Vier Diktator-Narrativen geht Prieto in den zentralen Kapiteln nach. Unter dem Schlagwort der «Palingenese» tritt der Diktator zunächst als historischer Wiedergänger in Erscheinung: Die präsentistische Anverwandlung von Lucius Quinctius Cincinnatus, Lucius Cornelius Sulla, Julius Caesar oder Oliver Cromwell verlieh seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Orientierung und besass politisches Prognosepotential. Das Verhältnis von Erfahrung und Erwartung leuchtet Prieto stärker kurzfristig für politische Legitimitätsfragen von Diktaturen aus als in seinen längerfristigen Implikationen: War der Diktator in seinen antiken Semantiken primär eine Übergangsfigur, so zielten nach 1800 historische Parallelisierung und zeitgeschichtlicher Vergleich weniger auf die Bewahrung von Republiken als auf das Problem postrevolutionärer Monarchie. Dass der 1814/15 zweimal auf den französischen Thron zurückkehrende Ludwig XVIII. sich als Gegenbild zum usurpatorischen, illegitimen und despotischen «Buonaparte» inszenierte, bildete einen Grundpfeiler restaurativer Herrschaftslegitimation.

Die Wirkmächtigkeit des Diktators als Hoffnungsträger und Ordnungsbringer erwies sich, wie das folgende Kapitel zeigt, besonders im postkolonialen Lateinamerika, für dessen Staatenwelt die Zeitgenossen unterschiedliche politische Szenarien diskutierten und sich mit Prognosen schwerer taten. Entsprechend blieben gerade europäische Kommentare zu den Diktatoren Rosas’ in Argentinien und Francias in Paraguay ambivalent, weil sie angesichts deren neuartiger Langzeitregierungen Repression, Stabilisierung und die Reichweite politischer Beteiligung gegeneinander abwogen. Anders verliefen die ordnungspolitischen Wege Bonapartes, der seine Diktatur in eine Erbmonarchie verwandelte, und Bolívars, der als Libertador im nördlichen Lateinamerika ein autoritäres Wanderleben eigener Art führte.

Komplementär zu «Hoffnung und Ordnung» legt das dritte Hauptkapitel den Schwerpunkt auf Vorstellungen von Diktatur als Herrschaft von «Furcht und Terror», zu deren Schreckensbild die Jakobinerdiktatur von 1793/94 avancierte. Hieraus ergab sich ein weiteres Spannungsverhältnis zwischen dem Diktator als ordnungspolitischem Garanten für das Ende des Terrors wie beim jüngeren Bonaparte oder aber als Projektionsfläche neuer Terrorpraktiken in Reaktion auf Bedrohungen diktatorischer Herrschaft wie im Falle Francias. Besonderer Stellenwert kam Terrorszenarien in Phasen von Regimeübergängen zu, als die Bildpublizistik zum «blutrünstigen» Maximilien de Robespierre und einmal mehr zu Bonaparte Konjunkturen erlebte. Dass zeitgenössische Stiche Ersteren als «Triumvir» (S. 98) und Letzteren als «Universalmonarchen» (S. 101) präsentierten, deutet aber zugleich das breitere ideengeschichtlich-semantische Spektrum des (post‐)revolutionären Diskurses über autoritäre Herrschaft jenseits der Diktatorfigur im engeren Sinne an. Da solche Typisierungen medial übergreifend auch in Tagespublizistik, Reisebeschreibungen, literarischen Verarbeitungen und Geschichtsschreibung verhandelt wurden, eröffnet Prieto zugleich Einblicke in die Entstehung von Konventionen einer Diktatorenhistoriografie.

Das vierte Hauptkapitel begibt sich auf das mit Blick auf Bonaparte/Napoleon bereits gut durchpflügte Feld von Erinnerung und Nostalgie. Der Napoleonismus stellte die französische Restaurations- und Julimonarchie vor erhebliche legitimitätspolitische Herausforderungen. Mit der Rückkehr seiner sterblichen Überreste nach Frankreich 1840 erlebte die Napoleon-Begeisterung eine neue Welle.5 Fraglich erscheint jedoch, ob für diesen posthumen Napoleonismus primär die Diktatursemantik leitend war oder sich viele Franzosen vielmehr stärker nach dem Feldherrn, dem Kaiser oder einem postrevolutionär-säkularen Christus sehnten. Generell war die Omnipräsenz von Diktatorfiguren in Geschichtsschreibung, Opernliteratur oder Malerei des 19. Jahrhunderts zwar wirkmächtig, aber keinesfalls exklusiv. Wenn Heinrich Heine 1831 in seiner Betrachtung von Pariser Historiengemälden Bonaparte mit Cromwell und Washington verglich, die sich beide eben nicht krönen liessen, so liegt in seinem Befund, dass aus Bonaparte lediglich der «Napoleon von Europa» (S. 148) hervorgegangen sei, nicht nur der Unterschied, sondern auch die Grenze der Diktatorsemantik. Neue Blickrichtungen eröffnen die Verflechtungen von Napoleon-Kult in Frankreich und Bolívar-Kult in Venezuela oder die Seitenblicke auf Richard Wagners in Paris zur Zeit der Überführung Napoleons entstandene Oper über den mittelalterlichen römischen «Diktator» Cola di Rienzo.

Am Schluss steht ein Ausblick, zunächst auf die Revolutionsphase von 1848/49, als es jenseits der Wiedergängerfigur von «Napoléon le Petit» (Victor Hugo) in Frankreich wie in Spanien neue Überlegungen zu konstitutionellen Diktaturen als ordnungspolitischem Instrument gab. Das Buch schliesst dann aber mit der augenscheinlichen Konjunkturphase historischer Diktatorfiguren im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert. Nicht nur Adolf Hitler war unvermittelt «wieder da» (Timur Vermes), sondern britische und portugiesische Fernsehpublika wählten Oliver Cromwell und António de Oliveira Salazar in Spitzenpositionen ihrer grössten Nationalhelden, und Querdenker witterten ihrerseits eine «Coronadiktatur». Weitere Schlüsse aus diesen Schlaglichtern zu ziehen, überlässt Prieto jedoch seiner Leserschaft.

In der Gesamtschau erweist sich für Prietos atlantischen Zugriff die These vom «Zeitalter der Diktatur[en]» als tragfähig. Neue Diktaturvorstellungen prägten die politischen Möglichkeitsräume des frühen 19. Jahrhunderts, wie es auch Republiken, Monarchien, Verfassungen oder Parlamentarismus taten, und sie waren mit diesen vielfältig verflochten. Gegenüber dem oft kritisierten (West‐)Eurozentrismus von klassischer Begriffsgeschichte und historischer Semantik bietet der lateinamerikanische Horizont der Studie einen grossen Gewinn, zumal die dortigen Diktaturen in Europa intensiv rezipiert und kommentiert wurden.6 Die interdisziplinären Anknüpfungspunkte unterstreichen ihrerseits die Relevanz der Diktatorfigur.

Konventioneller erscheint das Sattelzeit-Argument eines Wandels der Diktatursemantiken hin zum heutigen negativen Begriffsgebrauch, das im Laufe der Studie etwas in den Hintergrund tritt und mangels eines systematischen Fazits auch nicht noch einmal auf seine Erklärungs- und Innovationskraft – oder aber, mit Blick auf Schmitt und Koselleck, auf seine eigene Historizität hin befragt wird. Weiterer Diskussionsbedarf besteht zur politischen Reichweite des «Zeitalters der Diktaturen»: In dem Masse, wie das «Zeitalter der Revolutionen» auch ein postrevolutionäres Zeitalter war, lässt sich der Problemkomplex der Diktatur von den zeitgenössischen Debatten über die Monarchie und von konkreten Restaurationsprojekten kaum trennen. Vor diesem Hintergrund bleibt das Verhältnis von Diktatur und Monarchie(erwartung) unscharf, gerade mit Blick auf Übergangszenarien, sei es in den prekären Republiken Grosskolumbiens, Perus und Boliviens oder den postrevolutionären Monarchien in Frankreich, Mexiko oder Haiti. Umgekehrt hat die in den letzten Jahren mit Blick auf Frankreich florierende Restaurationsgeschichtsschreibung Diktaturnarrativen kein besonderes Augenmerk gewidmet, weil diese traditionell in die Zuständigkeit der Napoleon-Historiografie fielen. Somit bietet Prietos Studie einen substanziellen Ansatzpunkt für die zukünftige historische Transitionsforschung wie generell für eine global intellectual history zum «Zeitalter der Revolutionen».

Notes
1 Moisés Prieto (Hg.), Dictatorship in the Nineteenth Century. Conceptualisations, Experiences, Transfers, London 2022.
2 David A. Bell, Men on Horseback. The Power of Charisma in the Age of Revolution, New York 2020.
3 Reinhart Koselleck, Carl Schmitt, Der Briefwechsel. 1953–1983 und weitere Materialien, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2 2020; Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik, Berlin 2023
4 Robert Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760–1800, 2 Bde., Princeton 1959–1964; Eric J. Hobsbawm, The Age of Revolution 1789–1848, New York 1996; dagegen im Plural David Armitage, Sanjay Subrahmanyam (Hrsg.), The Age of Revolutions in Global Context, c. 1760–1840, Basingstoke 2010.
5 Benjamin Marquart, Held – Märtyrer – Usurpator. Der europäische Napoleonismus im Vergleich (1821–1869), Baden-Baden 2019 (Helden – Heroisierungen – Heroismen 11).
6 In europäischer Perspektive verfolgt einen über Westeuropa hinausgreifenden Ansatz massgeblich die Reihe European Conceptual History bei Berghahn Books; https://www.berghahnbooks.com/series/european-conceptual-history (1. 6. 2023).

Zitierweise:
Pestel, Friedemann: Rezension zu: Prieto, Moisés: Narratives of Dictatorship in the Age of Revolution. Emotions, Power and Legitimacy in the Atlantic Space, London 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 392-395. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

Editors Information
Contributor
First published at
Additional Informations
Type
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability