U.B. Leu: Johann Jakob Scheuchzer

Cover
Titel
Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Pionier der Alpen- und Klimaforschung


Autor(en)
Leu, Urs B.
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
CHF 38.00; € 38,00
von
Janik Hug

2022 jährte sich der Geburtstag des Zürcher Arztes und Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) zum 350. Mal. Dieses Jubiläum nahm Urs B. Leu zum Anlass, um die vorliegende und – so erstaunlich dies klingen mag – die bislang einzige das ganze Leben von Scheuchzer umfassende Biografie des Zürcher Polyhistors vorzulegen. Die Publikation erschien parallel zur Scheuchzer-Ausstellung «Wind und Wetter. Das Klima in Zürich seit der Steinzeit» der Zentralbibliothek Zürich (ZBZ).

In insgesamt 18 Kapiteln behandelt Leu Meilensteine in Scheuchzers Leben und würdigt dessen Forschungen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Wie die Titel der ersten Kapitel «Zürich um 1700», «Jugendzeit» und «Studium in Altdorf und Utrecht» verraten, legt der Autor den Fokus zunächst auf das familiäre und gesellschaftliche Umfeld, in dem Scheuchzer aufwuchs sowie auf die für den späteren Naturforscher geistig prägenden Studienjahre. Bis zu Scheuchzers Rückkehr nach Zürich (mit dem Doktorhut auf dem Kopf) bietet vorliegende Biografie in erster Linie eine entschlackte Version der bekannten Scheuchzer-Teilbiografie, die Rudolf Steiger 1927 als Dissertation vorlegte. In den Kapiteln «Die Gesellschaft der Wohlgesinnten» und «Heirat und Familie» präsentiert Leu die bereits länger bekannten Forschungsergebnisse von Kempe/Maissen (zu den «Wohlgesinnten») und die neueren von Bulinsky (zu Scheuchzers Familienverhältnissen und -ökonomie) in kurzer und knapper Form. In den folgenden Kapiteln beleuchtet der Biograf eine Phase in Scheuchzers Leben, die für die Situation von Gelehrten in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft bezeichnend ist. Der Versuch, eine «[ä]rztliche Praxis» aufzubauen und mit «Lehraufträge[n] und Lehrbücher[n]» eine Existenzgrundlage für sich und die Familie aufzubauen, gelang nur leidlich. Die wenig aussichtsreiche Situation in der Heimat (anderen geistigen Grössen der Zeit wie Albrecht von Haller sollte es später gleich ergehen) bewirkte, dass sich Scheuchzer auf «Stellensuche im Ausland» begab. Ausführlich und in den Worten der Protagonisten zeichnet Leu die Verhandlungen zwischen Scheuchzer und Leibnitz nach und macht dadurch das jahrelange Hin und Her erfahrbar, das zu Beginn der 1710er Jahre beinahe dazu geführt hätte, dass die Zürcher den herausragendsten Gelehrten ihrer Zeit an den Zarenhof nach St. Petersburg verloren hätten. In den Kapiteln 10 bis 17 befasst sich der Autor dann intensiv mit Scheuchzers unermüdlicher und vielseitigen wissenschaftlichen Tätigkeit. Diese reicht von Scheuchzers Engagement als «Kurator der Bibliothek und des Museums» in Zürich über seine «Alpenreisen» bis hin zu den unter anderem aus den empirischen Forschungsexkursionen in die Alpen resultierenden Publikationen: den «[…] Itinera alpina», der «Schweizer Karte» und der «Natur-Historie des Schweitzerlands». Ebenfalls in je einem Kapitel geht Leu auf Scheuchzers Forschungen auf dem Gebiet der «instrumentellen Meteorologie» – auf dem Letzterer als Schweizer Pionier gelte –, der Paläontologie und der Sintfluttheorie sowie der Physikotheologie ein.

Leu nimmt beim Aufbau seiner Kapitel eine leser:innenfreundliche Dreiteilung vor. Jedes Kapitel beginnt der Autor mit einem kurzen Abriss der damaligen Verhältnisse, indem er etwa auf die soziopolitische oder die ökonomische Situation in Zürich oder aber die zeitgenössischen Wissenschaftsdebatten Bezug nimmt. Anschliessend geht der Autor jeweils ausführlich auf Scheuchzers Situation oder auf die von ihm angewandte Methode und die daraus resultierenden Forschungsergebnisse ein. Am Ende jedes Kapitels folgt ein kurzer Ausblick. In diesem thematisiert Leu entweder, was sich an Scheuchzers persönlicher, beruflicher, finanzieller etc. Situation noch verändern sollte oder aber, wie Scheuchzers wissenschaftliche Erkenntnisse von der Nachwelt bewertet wurden und welche Bedeutung ihnen heute noch zukommt. Der Autor trägt den Ansprüchen der heutigen geschichtswissenschaftlichen Forschung Rechnung, wenn er insbesondere Scheuchzers zahlreiche Irrtümer (Existenz von Drachen; vermeintliches Fossil eines Menschen, der während der Sintflut umgekommen sei) weder beschönigt noch kleinredet und so das Bild des Fackelträgers der Zürcher Aufklärung kritisch komplettiert.

Leus Biografie vermittelt ein differenziertes und dank der zahlreichen (teilweise jedoch etwas zu lang geratenen) Zitate aus Briefen, Manuskripten und Druckschriften ein äusserst lebendiges Bild des Zürcher Polyhistors. Der Entscheid, die Biografie entlang thematischer Schwerpunkte aufzubauen und nicht dem zeitlichen Lauf eines Lebens zu folgen, ist nicht als Nachteil zu werten – gleichwohl würde eine Zeittafel im Anhang die Orientierung auf der Zeitachse massiv vereinfachen und die Biografie um ein praktisches Arbeitsinstrument bereichern. Das vorliegende Werk schliesst eine gewichtige Lücke in der Scheuchzer-Forschung. Dies nicht nur, weil nun endlich eine umfassende Biografie des Zürcher Naturforschers vorliegt, sondern auch, weil es der Biograf versteht, den aktuellen Forschungsstand verständlich und kondensiert auf den Punkt zu bringen. Bis sich also wieder jemand ernsthaft an eine Scheuchzer-Biografie wagen kann, wird wohl noch viel Wasser an der ZBZ vorbeifliessen – wenngleich deren Bestände noch Stoff für zahlreiche weitere Kapitel und Episoden aus Scheuchzers Leben und Schaffen sowie über seine (insbesondere politischen) Engagements hergeben würden.

Zitierweise:
Hug, Janik: Rezension zu: Leu, Urs B.: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Pionier der Alpen- und Klimaforschung, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 378-379. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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