A. Müller: Fontevraud and the Making of Bourbon France, 1642–1100

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Titel
From the Cloister to the State. Fontevraud and the Making of Bourbon France, 1642–1100


Autor(en)
Müller, Annalena
Erschienen
New York 2021: Routledge
Anzahl Seiten
286 S.
von
Anne Diekjobst, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Annalena Müllers Dissertation From the Cloister to the State. Fontevraud and the Making of Bourbon France, 1642–1100 trägt einer Tatsache bereits im Titel Rechnung, wenn ihr untersuchter Zeitraum in ungewöhnlichem Format präsentiert wird. Es ist ein Spannungsbogen, den die Autorin geschickt zu halten vermag, wenn sie in ihrer Einleitung auf die Unabgeschlossenheit mittelalterlicher Geschichtsschreibung im 17. Jahrhundert verweist, in der Umdeutungen und Manipulationen ein neues Bild der Vergangenheit zeitigten. Fontevrauds Äbtissin Jeanne-Baptiste de Bourbon (1636–1670) erfand die mittelalterliche Tradition von weiblicher Herrschaft und männlicher Dienerschaft – mit grossem Erfolg (S. 3)! Diese Form der «memory construction» legt den ersten Schwerpunkt der Arbeit fest, gefolgt von dem Interesse an den Verbindungen zwischen Religion und Politik, oder, spezifischer, an monastischen Reformen und politischer Expansion (S. 7).

Es folgen drei zentrale Kapitel, die sich in erfrischender, nicht-chronologischer Weise mit den beiden Schwerpunkten beschäftigen. Müller entzaubert dabei vorsichtig und umsichtig, aber nichtsdestotrotz gründlich die Perspektive der «seventeenth-century lens» (S. 4) und vermag es so, die erzählten Geschichten zu systematisieren und historisieren – rückwärts von den 1640ern bis in die Gründungsphase zu Beginn des 12. Jahrhunderts. Die mutige und konsequente Entscheidung, Fontevraud nicht als eine abgeschlossene Klosteranlage zu begreifen, sondern die Zeit ernst zu nehmen und die Einflüsse politischer Sprache und nicht-religiöser Herrschaft zu berücksichtigen, öffnen den Raum für eine wertfreie Darlegung der klösterlichen politischen Sphäre (S. 31). So erstaunt es nicht, wenn in der Erfindung von «abbatial sovereignty» eine besondere Autorität der Äbtissinnen über ihre «subjects» beschrieben wird. Die Neufassung von Geschichte und das Umschreiben der mittelalterlichen Quellen lässt bald schon den Gründer Fontevraud zu, Robert von Arbrissel, in den unaufhaltsam revisionistischen Blick der Äbtissin kommen. Die Neuausrichtung beeinflusste bereits Michelet in seiner These einer zunehmenden Prominenz von Frauen im 12. Jahrhundert (S. 37), lässt sich aber bis in die Gegenwart fortführen. Müller zeigt an der Person Robert von Arbirissel eindrücklich, wie moderne Projektionen an die mittelalterlichen Quellen herangelegt werden, aber auch, wie die geschickte Umdeutung einer Äbtissin den mittelalterlichen Gründer ins rechte Bild rükken sollte und das ungewöhnliche Geschlechterverhältnis durch die (letztlich gescheiterte) Heiligsprechung zementiert werden sollte.

Der nächste Themenblock erzählt die Geschichte Fontevrauds in ihren Höhen und Tiefen: Die reiche Anfangszeit wurde durch politische Unruhen in zweieinhalb Jahrhunderten in eine Abwärtsspirale (S. 83) überführt, die mit einer Reform und dem darauffolgenden Aufstieg beendet werden konnte. Müller legt dar, wie einschneidend die Erfahrungen von Krieg und Not waren und wie sehr sie die innere Struktur und äusseren Zustände der Gemeinschaft beeinflussten. Zwischen 1457 und 1575 arbeiteten vier Äbtissinnen kontinuierlich an der Wiederherstellung Fontevraud und es gelang ihnen, monastisch und politisch neue Dimensionen zu erreichen (S. 87), auch und vor allem durch die enge Bindung an die Bourbon-Vendôme, deren Linie von Tante zu Nichte für fast 200 Jahre die Äbtissinnen stellte (S. 104). Die (um‐)weltlichen Verwicklungen zwischen dem schon bald wichtigsten Geschlecht Frankreichs und Fontevraud werden ausführlich und detailliert dargestellt. Damit wird ein Beitrag zur Erklärung des Aufstiegs dieses Hauses geleistet (S. 196), in dem nicht nur die territoriale, sondern auch die persönliche Wirkmächtigkeit des Gesamtwerks Fontevraud berücksichtigt werden musste.

Die politischen Erzählungen und Erklärungen leiten in ein vertrautes Narrativ spätmittelalterlicher Klosterforschung: Reformen, die ihren Anfang in der Mitte des 15. Jahrhunderts nahmen und gleichsam temporalia wie spiritualia betrafen. Doch Fontevraud war kein Kloster im herkömmlichen Sinn: Neben der komplexen Situation einer gemischten Gemeinschaft lagen noch 77 weitere religiöse Häuser im Verantwortungsbereich der Mutterabtei. Im Zuge der Reform wurde aus einem losen Zusammenschluss ein solides Netz, gar ein Orden. Die Reformversuche stiessen dabei auf einen Widerstand, der das Reformvorhaben auf ein Jahrhundert ausweitete, bis die Reformen letztlich in einem ökonomischen und strukturellen Erfolg, aber in einer personellen und strukturellen Gefahrenlage endeten – und damit den Impuls für die Umschreibung von Geschichte gaben.

Das Buch bringt in seiner unerwarteten und allein schon deswegen stets spannenden Ausrichtung insbesondere die Fokussierung auf Religion und Politik auf den Prüfstand. Ganz im Sinne der modernen Auffassung einer Untrennbarkeit beider Bereiche ist in Fontevraud keine Grenzziehung möglich; und diese Überzeugung gleich zu Beginn der Arbeit ermöglichte es Müller, neue Ansätze und Erklärungen zu finden. Die Darlegung der Historiographie Fontevrauds bekommt einen schon fast unheimlichen Charakter, wenn sich über die folgenden Kapitel zeigt, wie massiv auf die Geschichte, erfahren und erzählt, eingewirkt wurde. Welche Meistererzählungen liessen sich noch mit einer so gründlichen und kritischen empirischen Analyse entzaubern und neu verzaubern? Denn das ist es, was Annalena Müller mit ihrer Arbeit gelungen ist. Wenngleich die Geschichte Fontevrauds nicht ohne die Erzählung von Geschlecht und dem Arbeiten daran auskommt, so überzeugt sie umso mehr, da keine theoretisierende Einbettung vorgenommen wurde, sondern souverän mit Geschlecht als sozialem, politischen und religiösen Faktor umgegangen wird. Zuletzt ist noch positiv hervorzuheben, dass die Autorin die Nutzung in der Lehre explizit eingeplant hat: Die Kapitel der Arbeit sollen auch einzeln gelesen werden können; Anhänge mit ediertem Quellenmaterial runden das insgesamt positive und auf niedrigschwellige Nutzung ausgerichtete Buch ab.

Zitierweise:
Diekjobst, Anne: Rezension zu: Müller, Annalena: From the Cloister to the State. Fontevraud and the Making of Bourbon France, 1642–1100, New York 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 364-365. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.