H. Affolter: Das höhere Berner Mittelland

Titel
Das höhere Berner Mittelland. Amtsbezirke Schwarzenburg, Seftigen, Thun, Konolfingen, Signau und Trachselwald


Autor(en)
Affolter, Heinrich Christoph et al.
Reihe
(Die Bauernhäuser des Kantons Bern, Band 2)
Erschienen
Bern 2001: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
680 S.
Preis
€ 70,60
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Schläppi

Es hat in der Schweiz Tradition, dass besonders schöne Bücher sich der ländlichen Architektur und Kultur annehmen. Dies galt besonders für Richard Weiss’ «Häuser und Landschaften der Schweiz»; der gleiche Gedanke geht wohl auch vielen Leserinnen und Lesern durch den Kopf, die den zweiten Berner Band der «Bauernhäuser der Schweiz» zur Hand nehmen. Das in mehrfacher Hinsicht gewichtige Werk stellt, ein gutes Jahrzehnt nach Erscheinen des Oberland-Bandes, das höhere Berner Mittelland vor. Die Leitung des Unternehmens lag bei Heinrich Christoph Affolter. Im Vergleich zum ersten Berner Band, aber auch früheren Beiträgen der 1965 begründeten Reihe, sind Elemente einer methodischen und thematischen Neuorientierung sichtbar. Nebst bewährten Normen der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde tauchen neue Themen wie zum Beispiel das Kapitel über bäuerliche Wohnkultur im 20. Jahrhundert auf.

Der erste Abschnitt von Christian Pfister und Thomas Jahn vertieft historischgenealogisches Wissen mit umfangreichem Datenmaterial, vor allem zur Agrar- und Sozialgeschichte. Den beschränkten Platz nutzen die Autoren, indem sie die Fakten mit knappen Ausführungen darlegen. Vieles, was im Text ungesagt bleiben muss, wird in den sorgfältig zusammengestellten Abbildungen und Diagrammen deutlich. Kapitel wie jenes über die Bevölkerungsgeschichte lassen die menschlichen Schicksale erahnen, welche von den strukturellen Entwicklungen tief geprägt wurden.

Im umfangreichsten Buchteil liefert Affolter einen kurzweiligen und fundierten Überblick über die Hausgattungen, welche im Untersuchungsgebiet in beeindruckender Vielfalt anzutreffen sind. Dabei wird immer wieder auf die Einbettung der Siedlungen und Objekte in die Kulturlandschaft hingewiesen und mittels Kastentexten auf Detailfragen fokussiert.

Im Abschnitt über die konstruktiv-statischen Grundlagen vermitteln Hans Wenk und Benno Furrer spannende Einblicke in die Kunst der Zimmerleute. Ausgeprägter als in anderen Kapiteln wird hier auf dem entsprechenden Kapitel des Oberländer Bandes aufgebaut; folgerichtig widmen sich die Autoren insbesondere der Technologie, der Organisation und Prozessen des Bauens. Dies geht nicht immer ohne Fachterminologie, die als Adressaten primär den professionellen Holzbauer anspricht. Hervorragende Tabellen und Schemata runden den Text ab.

Im Katalog der Schmuck- und Detailformen gelingt es Doris Amacher, formale Entwicklungen anschaulich zu systematisieren. Die beeindruckende künstlerische Potenz des ländlichen Kulturschaffens ist auch eine Aufforderung an die Kunst- und Architekturgeschichte, die ländliche Architektur mit neuen Fragestellungen zu untersuchen.

Spätestens seit 1900 machen linguistische und volkskundliche Untersuchungen neben der Konstruktionsanalyse den Schwerpunkt der Bauernhausforschung aus; viele Fragen in diesen Bereichen sind daher erschöpfend abgehandelt worden. Dennoch gelingt es Affolter, den Appetit der Lesenden auf Neues in dieser Sparte zu wecken – wenn nicht mit den Würsten im Rauchgaden, so doch bestimmt mit Beispielen okkulter Handlungen und Objekte. Das Kapitel wird von Thomas Hengartners Betrachtungen zur Wohnkultur des 20. Jahrhunderts abgerundet. Nachdem schon die historische Einführung wesentliche Themen des 20. Jahrhunderts angesprochen hat, wird hier schmerzlich spürbar, dass Architekturbeispiele aus jüngerer Vergangenheit ausgeklammert bleiben.

Zum Schluss des Buches stellt Affolter 49 ausgewählte Bauten vor. Die Lektüre in diesem Buchteil ist dank der hochwertigen Pläne, Texte und Abbildungen ein besonderes Vergnügen. Die Informationen über Bauherren, Künstler und Besitzergeschichten stellen eindrücklich unter Beweis, wie sehr diese Architektur in einen umfassenden Kontext eingebettet zu werden verdient. Leider werden die zwei vorangestellten Typologien nach Affolter und Wenk nicht einheitlich verwendet.

Im Vergleich zum ersten Band der Reihe, Christoph Simonetts «Bauernhäuser des Kantons Graubünden» von 1965, ist der neue Berner Band gut doppelt so dick, umfasst ein Vierfaches an Text und bringt im Anhang rund zehnmal so viele Fussnoten unter (1327 sind es insgesamt). Dies wirft elementare Fragen auf: Wie sinnvoll ist es, Fussnoten im Anhang zu platzieren oder das Sachregister als Ersatz für ein Glossar zu konzipieren, wenn der Umfang ein schnelles Blättern verunmöglicht? Wäre es daher möglich, die drei Register zusammenzulegen? Mit Blick auf den Umfang muss auch gefragt werden, auf welche Buchteile hätte verzichtet werden können. Grundsätzlich herrscht unter den Kapiteln ein ausgewogenes Verhältnis. Lediglich statt der in den Anhang verbannten Zusammenfassung, die bereits Gesagtes wiederholt, hätte man gerne einige persönlich-interpretative Betrachtungen über Wesenszüge und Qualität der präsentierten Architektur gelesen. Gänzlich überflüssig wirkt die französische Übersetzung der Zusammenfassung; sie dürfte von niemandem gesucht und gefunden werden, der nicht auch den Rest des Buches versteht. Zu einer wesentlichen Reduktion des Umfangs hätte eine andere Aufteilung des Untersuchungsgebiets beitragen können, zumal die Haustypologie in Kapitel zu den Gebieten rechts und links der Aare aufgeteilt ist: Trotz naturräumlicher Ähnlichkeiten zwischen dem östlichen und westlichen Hügelland haben die politischen und kulturellen Verhältnisse zu zwei gänzlich unterschiedlichen Hauslandschaften geführt, nebst denen vielleicht als dritte das Aare- und das Gürbetal gesondert hätten betrachtet werden können. Doch im Grunde genommen verschafft gerade die Gegenüberstellung des vernachlässigten Schwarzenburgerlandes und des viel beachteten Emmentals Einblick in tiefe Klüfte im politischen Gebilde Bern – eine ungewollte, aber deutliche Aussage.

Längst sind die Bauernhausbände nicht mehr die regional ausgerichteten Bestimmungs- und Datierungsfibeln, als die sie ursprünglich konzipiert wurden. Die topografische Einteilung der Bände erscheint zum Beispiel mit Blick auf das bautechnischkonstruktive Kapitel als Hypothek, da dieses Inhalte anspricht, die auch für andere Hauslandschaften relevant sind. Jean-Pierre Anderegg hat in seiner Rezension des ersten Bandes in der «Berner Zeitschrift» darauf hingewiesen, dass die «Bauernhäuser im Kanton Bern» nicht als Inventarwerk beziehungsweise flächendeckende Kunsttopografie ausgelegt zu werden brauchen, da ja das kantonale Bauinventar diese Aufgabe ergänzend wahrnimmt. Tatsächlich profitiert das Buch in seinen besten Teilen von den aus dieser Konstellation entstehenden Freiheiten. So sind die kunstführerartig konzipierten Baumonografien eigentliche Schlüsselstudien punkto Dichte, Verständlichkeit und Aussagekraft.

Für kommende Bände öffnen sich hier Möglichkeiten, um Fragestellungen und Beobachtungshorizont nochmals zu erweitern. Man denkt zum Beispiel an das Bauernhaus als Hort nationaler Identität, an Jeremias Gotthelf, der mit den Schachen und Eggen des Emmentals gleichsam auch Höhen und Tiefen der menschlichen Seele ausgeleuchtet hatte, an Franz Schnyder, der Häuser und Landschaften zu mythologischen Stätten stilisierte usw. Das Bauernhaus wird nicht nur als hoch stehendes, kunsthandwerkliches Produkt oder ökonomische Funktionseinheit, sondern vermehrt auch als Projektionsfläche urbaner Sehnsüchte zu untersuchen sein. Ein weiteres Thema könnte die Wechselwirkung zwischen herrschaftlicher und bäuerlicher Architektur werden. Die Grenze zwischen den beiden Bereichen ist von der Bauernhausforschung bislang mit erstaunlicher Selbstgenügsamkeit akzeptiert worden. Besonders interessant wäre es, den belebenden Austausch zwischen urbanen und ländlichen Gebieten zu untersuchen. Die ländlichen Artefakte waren bei weitem nicht so «anonym» und «naiv», wie es Ideologen hüben und drüben immer gerne gesehen haben.

Solche Überlegungen sind im besprochenen Band nicht ausführlich diskutiert. Aber die Dynamik des Buches zielt nebst den Fragestellungen, die bereits jetzt vorzüglich vertreten sind, auf Ansätze, die solche Inhalte angemessen reflektieren. Um die fantastische Architektur, die das Thema ist, besser kennen zu lernen und als Teil unserer Kultur zu begreifen, wird es sich lohnen, den Weg in die eingeschlagene Richtung weiter zu verfolgen.

Zitierweise:
Christoph Schläppi: Rezension zu: Affolter, Heinrich Christoph et al.: Das höhere Berner Mittelland. Amtsbezirke Schwarzenburg, Seftigen, Thun, Konolfingen, Signau und Trachselwald, Bern, Stämpfli, 2001 (Die Bauernhäuser des Kantons Bern, Band 2), 680 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 4, Bern 2002, S. 200ff.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 4, Bern 2002, S. 200ff.

Weitere Informationen