Die räumliche Dimension der Geschichte lässt sich am besten mit Karten darstellen und visualisieren. So umfasst das Historische Lexikon der Schweiz zahlreiche thematische Karten. Zuvor war der 1951 erschienene Historische Atlas der Schweiz von Karl Schib und Hektor Ammann das kartografische Standardwerk zur Schweizer Geschichte. Dieses wird nun durch eine neue Publikation abgelöst.
Der Historiker und Gymnasiallehrer Marco Zanoli hatte seit 2005 als WikipediaAutor zahlreiche Artikel zur Geschichte der Schweiz verfasst und diese mit über hundert Karten illustriert. 2018 entstand die Idee, die Karten mit begleitenden Texten als gedruckten Atlas auf Französisch zu publizieren. Zanoli überarbeitete sie grafisch und inhaltlich für den Atlas historique de la Suisse, der sich nicht primär an ein wissenschaftliches, sondern vielmehr an ein breites, allgemeines Publikum richtet. Nachdem diese Ausgabe ein grosses Echo und einen guten Absatz gefunden hatte, gingen die Autoren daran, den Atlas auf Deutsch übersetzen zu lassen und mit acht zusätzlichen Karten zu veröffentlichen.
Autor der Texte ist François Walter, der von 1986 bis 2012 Professor für Geschichte an der Universität Genf war und Standardwerke zur Geschichte der Schweiz und der Schweizer Städte schrieb.
Der Band umfasst 120 Karten in 25 thematischen Kapiteln, die chronologisch von der Ur- und Frühgeschichte bis ins 21. Jahrhundert führen. Jedes Kapitel wird durch einen zweiseitigen erläuternden Text eingeleitet. Danach folgen mindestens drei Karten zum Thema. Die erste zeigt jeweils den Alpenraum im Massstab von 1: 4000000 und damit den räumlichen Kontext der Schweiz. Detailkarten illustrieren die historische Entwicklung einzelner Kantone und ausgewählter Gebiete. Sie vermitteln die Veränderung von Grenzen und Zugehörigkeiten im Verlauf der Zeit. Die Karten sind immer im gleichen Massstab erstellt und leicht lesbar, da sie farblich und typografisch gut gestaltet und nicht überladen sind.
Die erste Karte bildet die früheste menschliche Besiedlung der heutigen Schweiz und ihrer Nachbargebiete ab. Danach sind sieben Kapitel der Schweiz im Mittelalter gewidmet, fünf der Frühen Neuzeit, sechs dem 19. Jahrhundert, zwei dem 20. Jahrhundert und das letzte dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Zum Schluss weisen die Autoren die wichtigste Literatur zur kartografschen Darstellung der Schweizer Geschichte nach.
Der thematische Schwerpunkt liegt in der territorialen Entwicklung der Eidgenossenschaft und ihrer Orte beziehungsweise Kantone im Kontext der umliegenden Herrschaftsgebiete. Ein halbes Dutzend Karten visualisieren die konfessionelle Gliederung der Schweiz. Vier Karten sind dem Verkehr gewidmet: Sie zeigen die Verkehrswege im Mittelalter, das Eisenbahnnetz 1860 und 1914 sowie die Autobahnen 2020. Das gleiche Gewicht hat die Wirtschaft mit fünf Karten, welche die Entwicklung der Industrie seit 1780 zeigen. Karten zu den landwirtschaftlichen Produktionsgebieten oder zu Dienstleistungen fehlen.
Die starke Konzentration auf die politisch-territoriale Entwicklung blendet gewisse Themen aus, die in anderen Atlanten für die Neuzeit kartografisch dargestellt sind: demografische, ökonomische und geografische im Schweizer Weltatlas oder sozioökonomische im Historischen Strukturatlas der Schweiz von 2001. Die drei Publikationen ergänzen sich somit inhaltlich.
Zanoli und Walter haben ein neues Nachschlagewerk geschaffen, das die räumliche Entwicklung der Schweiz nachzeichnet. Mit der Fokussierung auf die politisch-herrschaftlichen Verhältnisse und die Einbettung in die umliegenden Regionen erhält der Atlas einen roten Faden, behandelt aber andere Themen etwas stiefmütterlich. Wer gerne mit Karten arbeitet und sich für die Schweizer Geschichte im Längsschnitt interessiert, wird diesen Atlas mit Freude in die Hand nehmen.
Zitierweise:
Christian Lüthi: Rezension zu: Zanoli, Marco; Walter, François: Historischer Atlas der Schweiz. Zürich: Hier und Jetzt 2021. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 2, 2022, S. 54-56.