U. Kähler u.a.: Fanz Schnyder. Regisseur der Nation

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Titel
Franz Schnyder. Regisseur der Nation.


Herausgeber
Kähler, Ursula; Fluri, Raff
Erschienen
Baden 2020: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
277 S.
von
Michael Gautier

1940 erwirkt die Schweizerische Filmkammer, dass Franz Schnyder die Regie der Adaptation des erfolgreichen Bühnenstücks Gilberte de Courgenay (1941) übernimmt. Die 1938 gebildete Behörde, welche «‹die Abwehr wesensfremder Einflüsse›» und Förderung eines «‹bodenständige[n] Film[s]›» (S. 70) zum Ziel hat, verhindert so, dass ein weiteres armeefreundliches Werk vom 1933 immigrierten Staatenlosen Leopold Lindtberg, dem seinerzeit prägendsten Filmschaffenden in der Schweiz, gedreht wird. Wichtige Entscheide fällt Lazar Wechsler, der Produzent. Schnyder, der sich durch seine Theaterarbeit empfohlen hat, wird von Lindtberg in das Filmregiehandwerk eingeführt. Die «massentaugliche» (S. 80) Produktion bildet den Auftakt einer im Schweizer Film ihresgleichen suchenden Laufbahn, die nach Schnyders sechster und letzter Gotthelf-Verfilmung, Geld und Geist (1964), dem kommerziell erfolgreichsten Schweizer Film (S. 182), bald ein Ende findet.

Franz Schnyder (1910 – 1992) wächst in Burgdorf in einem bürgerlichen und bildungsaffinen Elternhaus auf. Der Vater, Sohn eines Architekten, hat sich an der ETH zum Bauingenieur ausbilden lassen und unterrichtet nach mehreren Jahren im Ausland am kantonalen Technikum in Burgdorf; daneben ist er selbstständig tätig und freisinniger Kommunalpolitiker. Die Mutter, Tochter eines Grossbauern, ist Primarlehrerin und hat dafür an der Universität Lausanne studiert. Die das Reisen liebende Frau, zu der Schnyder zeitlebens «ein enges Verhältnis» (S. 14) hat, muss sich auf die Rolle der Mutter und Hausfrau in einer Villa beschränken; sie wird später unter Depressionen leiden. Der ältere Bruder von Schnyder wird Kaufmann und gründet die Firma CWS für Hygieneartikel; 1975 begeht er Suizid. Schnyders Zwillingsbruder studiert Recht und wird Diplomat; zuletzt ist er UN-Hochkommissar für Flüchtlinge in Genf und dann bis 1975 Botschafter in den USA.

Seine Leidenschaft für das Schauspiel entdeckt Schnyder am Gymnasium. Sie führt ihn nach Düsseldorf und Berlin, wo er Unterricht nimmt. 1932 wird er nach Abschluss der Ausbildung umgehend in Mainz verpflichtet. Es folgen verschiedene Engagements in Deutschland und wiederholt in der Schweiz, so ab 1939 in Zürich und Basel. Mit bloss 24 Jahren führt er in St. Gallen erstmals Regie. 1935 / 36 ist er Spielleiter in Münster, und noch 1939 inszeniert er in Berlin und München. Schnyder wird als eher verschlossener, in jungen Jahren seltsam unbeteiligter Zeitgenosse dargestellt, der die ihn umgebenden Verhältnisse – die Weltwirtschaftskrise, den Nationalsozialismus – nur bezogen auf seine Theaterpraxis zu registrieren scheint; etwa die Sparmassnahmen, die politisch beziehungsweise rassistisch motivierten Entlassungen (von denen er möglicherweise profitiert) oder die von den Behörden verordneten Anpassungen der Spielpläne, die er in Kauf zu nehmen bereit ist. (S. 40f.) Die an deutschen Bühnen herrschenden Arbeitsbedingungen und die Reputation der Häuser, an denen Schnyder wirkt, werden kaum thematisiert. Die Konturen von Schnyders Theaterlaufbahn bleiben deshalb unscharf. Wie sie einzuordnen ist, erschliesst sich eher retrospektiv und indirekt: Seine Regiearbeiten während der Kriegsjahre am Schauspielhaus Zürich, einem der herausragenden deutschsprachigen Theater – mit aus Deutschland und Österreich emigrierten Künstlern im Ensemble –, verdeutlichen, dass sich Schnyder einen Namen gemacht haben muss. Die Pfauenbühne in Zürich, ein hochgradig politisiertes Umfeld, wird sich für Schnyder als eine im Hinblick auf seine cineastische Tätigkeit wichtige Begegnungsstätte erweisen.

Die Kontextualisierung der Biografie beginnt im Wesentlichen mit Schnyders Anfängen in der Filmregie. Die Praesens Film AG schafft in den 1930er-Jahren einen in Dialekt gesprochenen «Nischenfilm», der sich an ein einheimisches Publikum richtet; zusammen mit der Programmatik der geistigen Landesverteidigung bietet er Schnyder inhaltlich und formal «Orientierung», ist jedoch auch ein «kreatives Korsett», das seine filmische Praxis bis zuletzt prägt. (S. 73) Seinen zweiten Film, die in Bern spielende, prominent besetzte Kriminalkomödie Das Gespensterhaus (1942), dreht Schnyder ebenfalls im Auftrag von Wechslers Praesens Film. Ein kommerzieller Miss erfolg wird die von der Kritik positiv aufgenommene zeitkritische Geschichte eines Deserteurs (Wilder Urlaub, 1943). Schnyder dreht anschliessend während zehn Jahren keinen Langspielfilm. Er ist von 1944 bis 1946 künstlerischer Direktor am Stadttheater Basel. 1948 wird er von Gottlieb Duttweiler angeheuert und baut als künstlerischer Leiter mit viel Erfolg die Klubhaus-Konzerte der Migros auf.

Mit Jeremias Gotthelfs Uli der Knecht (1954), einem Angebot der Gloriafilm, kehrt Schnyder zum Film zurück in einer Zeit, in der unter dem Einfluss des Kalten Krieges die Berufsverbände das «ideologische Profil» der Produktionen einer «politische[n] Präventivzensur» unterziehen. (S. 120) Schnyders bis in die 1960er-Jahre entstehende Gotthelf-Verfilmungen gelten als seine «persönlichsten», geraten aber ins Visier der Kritik «an den als reaktionär geltenden Produktionen der Kriegs- und Nachkriegszeit». (S. 127) Die späten 1960er-Jahre markieren eine Zäsur. Die Marginalisierung Schnyders ist im Zusammenhang mit einer Wende hin zu anderen, von der neu geschaffenen öffentlichen Filmförderung präferierten Inhalten und Formen zu sehen. Gegen diesen «Neuen» Schweizer Autorenfilm führt Schnyder, der für «Filme fürs Volk» (S. 202) plädiert, fortan einen «Existenzkampf». (S. 196)

Die 1970er- und 1980er-Jahre stehen im Zeichen eines nie realisierten Filmprojekts zu Johann Heinrich Pestalozzi. Sie sind ebenso gekennzeichnet von Schnyders heftiger Kritik an den Behörden, bei denen er kein Gehör mehr findet, sowie einer zutiefst pessimistischen Zeitdiagnostik. Die Einweisung in eine psychiatrische Klinik wenige Monate vor seinem Tod ist kein Präzedenzfall, Schnyder ist mit der Institution seit Jahrzehnten vertraut. (S. 118) Gleichsam im Kontrast zu den düsteren und einsamen späten Jahren Schnyders steht eine neue, revidierte Rezeption seines Werks, die in den 1980er-Jahren einsetzt. Inzwischen wird seinem tendenziell wertkonservativen Werk Originalität und kritische Schärfe attestiert. Franz Schnyder wird nebst Kurt Früh und Lindtberg zu den bedeutendsten Vertretern des alten Schweizer Films gezählt.

Zitierweise:
Gautier, Michael: Rezension zu: Kähler, Ursula; Fluri, Raff: Franz Schnyder. Regisseur der Nation. Baden 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 4, 2021, S. 110-112.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 4, 2021, S. 110-112.

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