F. C. Ermotti: Le Alpi in movimento

Cover
Titel
Le Alpi in movimento. Vicende del casato dei mercanti migranti Pedrazzini di Campo Vallemaggia


Autor(en)
Chiesi Ermotti, Francesca
Reihe
Itinerari (20)
Erschienen
Bellinzona 2019: Edizioni Casagrande
Anzahl Seiten
560 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Magnus Ressel, Fachbereich 08, Historisches Seminar, Goethe Universität Frankfurt am Main

Dem Staatsarchiv Bellinzona wurden vor wenigen Jahren durch die in Campo (Vallemaggia) lebende Familie Pedrazzini eine große Menge an historischen Dokumenten aus der Geschichte des eigenen Hauses übergeben, die vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Die mit 115 Schachteln ungemein umfangreiche Überlieferung besteht im Kern aus einer großen Masse an Korrespondenzen von Angehörigen dieser Familie, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hauptsächlich als Händlerfamilie charakterisiert werden kann. Da diese Familie immer wieder ihre männlichen Angehörigen für viele Jahre ins nordalpine Ausland schickte, um einen transalpinen oder sogar globalen Fernhandel abzuwickeln, birgt diese Überlieferung, die vor allem die wirtschaftlichen, aber auch weitere Dimensionen der Familienaktivitäten betrifft, ein weit über die Regionalgeschichte reichendes Erkenntnispotential. Die in den letzten Jahren intensiv geführten Debatten zur historischen Migrationsforschung und der eng mit ihr verbundenen Geschichte des Fernhandels in der Vormoderne haben zu einer reichhaltigen Thesenbildung angeregt, wobei ein gewisser Debattenkern häufig um den Modus Operandi von Familiennetzwerken in ökonomischen Aktivitäten über weite Distanzen kreiste. Viele einschlägige Thesen können am Bestand zur Familie Pedrazzini im Detail überprüft und in ihrer praktischen Funktionsweise im historischen Verlauf nachvollzogen werden.

Chiesi Ermotti greift die entsprechenden Debatten reflektiert in ihrer Einleitung auf, fügt ihre Arbeit aber vor allem in den Zusammenhang der historischen Familienforschung ein, was neben der „network analysis“ auch Ansätze und Erkenntnisse für die von ihr explizit benannten Felder der „gender history“, der „microstoria“ und einer „global history“ im kleinen Maßstab im weiteren Sinne impliziert. Sie fragt gezielt nach der Familie als einem vor allem in der Frühen Neuzeit besonders engen Personenverband, der über Jahrhunderte und weite Räume agieren konnte. Sie stützt sich dabei vor allem auf den Ansatz einer angeblich in Nordeuropa lange vor Südeuropa bereits erkennbaren „Nuclear Family“ als eines Typus, der seit den 1960er-Jahren von der „Cambridge Group“ als Konzept stark gemacht und von Südeuropa abgegrenzt wurde. Sie benennt in der Einleitung einige der einschlägigen Diskussionen und Hypothesen, so die These einer Transition von kühlen zu warmen Gesellschaften („da una società ‚fredda‘ a una ‚calda‘“, S. 18). Auch die umfangreiche Forschung zu transalpinen Migrationsphänomenen oder zu familieninternen Hierarchien und Organisationsstrukturen sowie deren Erweiterung in Form von Klientelnetzwerken werden hier aufgegriffen.

Gegliedert ist die Arbeit in vier große Abschnitte mit einer sehr feinteiligen Untergliederung. Ziel dieser Struktur ist es offenbar, möglichst viele Quellen in die Analyse einzubeziehen. Der erste Abschnitt ist den Pedrazzini in Campo selbst gewidmet. Hier beschreibt Chiesi Ermotti zunächst die eng mit der Familiengeschichte verwobene Entstehungsgeschichte des Archivs und dessen Inhalte. Daraufhin beleuchtet sie die demographische Entwicklung und zeigt den bedeutenden Platz der Pedrazzini innerhalb der Gesamtgemeinde. Im Folgenden beleuchtet sie Strategien der Familie zur Erzeugung von Distinktion, etwa durch ihre imposanten Gebäude oder die Dienerschaft. Die Autorin behandelt hier auch die Rolle der Frauen in der Familie, die als aktive „padrone di palazzi signorili“ (S. 87) erscheinen und bei der Ausrichtung der Familienstrategie eine wichtige Rolle spielten.

Der zweite Teil zu „Kredit und Macht“ widmet sich den Strategien der Familie Pedrazzini zur Sicherung ihrer herausgehobenen Stellung in ihrer Heimatregion vor allem durch Klientelismus, Patronage, religiöses Engagement und Mäzenatentum. Wir erfahren hier viel zum Einfluss der Pedrazzini auf den verschiedenen regionalen Ebenen, vom dörflichen Raum bis hin zum gesamten Tessin. Das geistliche Leben und die vielfältigen hier beobachtbaren Engagements der Pedrazzini werden im Folgenden in großer Ausführlichkeit dargelegt, so Spenden und karitative Tätigkeiten, aber auch manche Karrieren von Familienmitgliedern im katholischen Klerus. Man sieht eine Familie, die sicherlich fromm war, dies aber auch deutlich nach außen zur Schau stellte. Weiterhin erfahren wir, dass die Familie zielgerichtet Ländereien in der weiteren Region auf der Grundlage ihrer Einnahmen aus dem Handel erwarb und so das familiäre Vermögen lokal absicherte. Kredite gab die Familie auch, nicht selten zur klientilären Bindung, jedoch verhielt sie sich hierbei insgesamt eher zurückhaltend. Auch die prokuratorische Tätigkeit der Familie zur Verwaltung von Vermögenswerten anderer Emigranten erfährt hier eine eingehende Darstellung. Die Pedrazzini verwalteten ihre Güter selbst, und die familiären Rückkehrer aus dem deutschsprachigen Raum fanden entsprechend in Campo eine neue anspruchsvolle Beschäftigung.

Der dritte Abschnitt besitzt für die deutsche Geschichte eine hohe Relevanz, da hier die Tätigkeit der Firma in Kassel intensiv beleuchtet wird. Wir erfahren viel über die Bildungswege und die Disziplinierungsstrategien der für den Handel auserkorenen Söhne, zunächst in Pfarrerschulen, dann in prestigereichen kirchlichen Bildungseinrichtungen und schließlich über die praktische Ausbildung für den Handel, unter anderem durch den Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen und die Vermittlung allgemeiner Verhaltensanweisungen. Die detaillierte Darstellung des Handels mit Kassel, der vor allem auf der Belieferung mit hochwertigen Lebensmitteln, etwa Kolonialwaren und Gewürzen basierte, liefert ein in dieser Detailliertheit bislang kaum bekanntes Bild von Warenbewegungen, Händlernetzen (insbesondere italienischen) und Handelszentren im Mitteleuropa des späten 18. Jahrhunderts. Gerade für die deutsche Handelsgeschichte ist hier auf wenigen Seiten eine Fülle von neuen Erkenntnissen in einiger Dichte versammelt. Der Abschnitt schließt mit einer Interpretation der Endogamie der Familie als einer Strategie im Fernhandel. Die Abschirmung der Familie gegenüber der Umgebungsgesellschaft ging dabei so weit, dass sie selbst ihre Angestellten und Auszubildenden aus der italienischen Heimat nach Kassel kommen ließen. Nur falls dies nicht möglich war, griffen die Pedrazzini auf den Nachwuchs anderer italienischer Familien in Deutschland zurück.

Der vierte Abschnitt ist den zahlreichen innerfamiliären Konflikten gewidmet, die in den Korrespondenzen ihren Niederschlag fanden. Diese Konflikte entstanden insbesondere zwischen Familienmitgliedern in der Fremde und den im Tessin verbliebenen um Fragen der Geschäftsstrategie. Aber etwa auch über ein von den Pedrazzini finanziertes Oratorium oder die Besetzung des Patronats wurde gestritten. Sichtbar werden hier Fraktionsbildungen, aber auch verschiedene Versöhnungsstrategien. Die übergreifende Tendenz einer zunehmenden Konfliktualität scheint an der abnehmenden Kohäsion des Familienverbandes gelegen zu haben, was Chiesi Ermotti als zeitgenössisches Phänomen deutet.

Der mit nicht ganz fünf Seiten sehr knappe Schluss führt verschiedene Stränge zusammen, indem hier noch einmal über den familiären Transnationalismus, Händlerdiasporen und den Zusammenhang von familiären und geschäftlichen Bindungen reflektiert wird. Auch der allgemeine Trend zu mehr Individualismus innerhalb der Familien, der solche Händlernetze tendenziell schwächte, wird hier angedacht. Hier wären eine ausführlichere Reflektion und eine analytische Zusammenführung wünschenswert gewesen, manche Stränge der ambitionierten Einleitung bleiben so doch eher liegen oder verharren im Impliziten. Eine gewisse Schwierigkeit bei der Lektüre bereitet die dichte Zusammenführung des empirischen Materials, was die Nachvollziehbarkeit mancher Textstellen erschwert. Eine narrative Darstellung der Familiengeschichte unterbleibt; das Buch bleibt so im Kern eine Zusammenstellung von vielen thematisch sortierten Einzelanalysen.1 Das Literaturverzeichnis und der Anmerkungsapparat des Buches sind gelungen, die genealogischen Anhänge sorgfältig gearbeitet. Das Fehlen eines Registers ist bedauerlich, wenigstens ein Ortsregister wäre angesichts der vielen Orte und Gemeinden sicher von einigem Nutzen gewesen. Einen Ausgleich bietet jedoch die Tatsache, dass das Buch im Open Access vorhanden und daher eine elektronische Durchsuchung möglich ist.

Die Dissertation von Chiesi Ermotti zeigt angesichts der bisherigen weitgehenden Unbekanntheit der Pedrazzini in Deutschland, dass viele bedeutende Aspekte der Geschichte der Migration von Italienern ins Alte Reich kaum Niederschlag in den nordalpinen Aktenüberlieferungen gefunden haben. Da die sogenannte „Italienerwanderung“ ins Alte Reich seit dem frühen 17. Jahrhundert ein verbreitetes Phänomen war und so illustre Familien wie die Brentano, Bolongaro oder Guaita in Deutschland betraf, da zugleich aber ein vergleichbarer Quellenbestand bislang nicht bekannt war, kommt der Arbeit von Chiesi Ermotti große Bedeutung für die Forschung zum Alten Reich zu. Zahlreiche Fragen nach vielen Details der Italienerwanderung können hier exemplarisch bearbeitet werden. So erfahren wir etwa, wie der Nachwuchs planmäßig ausgebildet wurde: durch eine besonders gute Schulbildung im Tessin, gefolgt von Lehrjahren in Deutschland, häufig auch bei befreundeten italienischen Familien und schließlich durch die Übertragung wichtiger Funktionen in der bedeutenden Kasseler Filiale. Auch befreundete italienische Familien in Frankfurt, Mainz, Heidelberg oder Ansbach erfahren so eine indirekte Beleuchtung. Die besonders elevierte Position der Pedrazzini nach Rückkehr von Familienmitgliedern aus dem Alten Reich ins Tessin fügt sich ins Bild, da die sehr guten Deutschkenntnisse den Pedrazzini in der Eidgenossenschaft die Übernahme von Sprecherfunktionen gegenüber den Vögten erleichterten.

Bei den Pedrazzini sind einige Besonderheiten des Phänomens der „Italienerwanderung“ festzuhalten, allen voran der Umstand, dass die Familie eben nicht aus Italien, sondern dem Tessin mit der besonderen politischen Struktur eines relativ autonomen Untertanenlands der Eidgenossenschaft stammte. Bemerkenswert ist auch, dass sich hier eine dezidiert katholische Familie mit ihrer wichtigsten Filiale über ein Jahrhundert in einem der Zentren des deutschsprachigen Reformiertentums halten konnte (der Standort Kassel wurde erst 1830 aufgegeben). Dies erklärt sich durch die überragende Fähigkeit der Pedrazzini, entweder direkt oder über andere italienische Familien in Deutschland, vor allem die Guaita in Frankfurt, koloniale Produkte oder Südfrüchte und viele weitere begehrte Luxusgüter zu einem besonders guten Preis zu liefern. Dabei ist bemerkenswert, dass die Kolonialwaren hauptsächlich über Amsterdam und in zweiter Instanz über Frankfurt bezogen wurden – dies verweist auf die bedeutende, aber bislang nur wenig bekannte Italienergemeinde in Amsterdam im 18. Jahrhundert. Auch in diesem Sinne waren die Pedrazzini nicht typische Exponenten der Italienerwanderung, sondern eher Repräsentanten einer überregionalen Händlerelite im weiteren Umkreis des Lago Maggiore und des Lago di Como. Dies zeigt sich auch bei der Anbindung an Finanznetzwerke der Italiener, die für die deutschen Höfe von besonderer Bedeutung war, da hier Kreditbedürfnisse von Höflingen bedient werden konnten. Das erhöhte die wechselseitige Abhängigkeit und war so auch im Interesse der Pedrazzini mit ihrer stets fragilen Stellung in Kassel. Es brachte aber auch manchmal Probleme bei der Einforderung von ausstehenden Geldern. Eine weitere Besonderheit ist, dass es nie zu einer festen Ansiedelung in Kassel oder einer Einheiratung in Deutschland kam, die Pedrazzini blieben letztlich immer von der Umgebungsgesellschaft getrennt.

In der deutschen Forschungslandschaft ist dem Werk eine breite Rezeption zu wünschen, da es für wichtige Themen der Geschichte des Alten Reiches bedeutende Erkenntnisse birgt. Das sehr dichte Material, das hier ausgebreitet wird, liefert viele Ansatzpunkte für weitere Forschungen und Anregungen zu zentralen Debattensträngen der Frühneuzeitforschung. Ihrem Anspruch, Globalgeschichte auf kleinem Maßstab darzubieten, ist Chiesi Ermotti erfolgreich gerecht geworden.

Anmerkung:
1 Eine solche gebündelte Darstellung bietet die Autorin allerdings im gut gelungenen, in drei Sprachen vorhandenen Artikel des Historischen Lexikons der Schweiz: Francesca Chiesi Ermotti, „Pedrazzini“, in: Dizionario storico della Svizzera (DSS), Version vom 03.05.2022, https://hls-dhs-dss.ch/it/articles/024719/2022-05-03/ (16.02.2023).

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Veröffentlicht am
07.03.2023
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