M. Wulz u.a. (Hg.): Deregulation und Restauration

Cover
Titel
Deregulation und Restauration. Eine politische Wissensgeschichte


Herausgeber
Wulz, Monika; Güttler, Nils; Stadler, Max; Grütter, Fabian
Reihe
Batterien (103)
Erschienen
Berlin 2021: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 22,00
von
Fabian Saner, Universität Zürich

Was kann und soll man sich unter einer politischen Wissensgeschichte des Neoliberalismus vorstellen? Ein Buch von Zürcher Historiker:innen aus dem Verbund «Geschichte des Wissens» gibt Antworten, die ein überraschendes Spektrum öffnen. Es geht hier nicht mehr um die Erweiterung und Differenzierung einer klassischen Ideengeschichte. Im Zentrum steht vielmehr die Ausleuchtung des Schlagworts Neoliberalismus und dessen widersprüchliche Laufbahn in einer «Nachkriegsmoderne», die von den 1920er Jahren – ausgehend vom Buch «Ideologie und Utopie» von Karl Mannheim – bis in die Gegenwart reicht. Die beiden Leitmotive dazu heissen «Deregulation» und «Restauration». Sie werfen gleichsam den Schlagschatten auf die Themen, Figuren und Felder, die im Buch verhandelt werden. Dieser Schlagschatten fällt weit, was nicht erstaunt, ist das Begriffspaar doch selbst abstrakt, verschränkt normative und zeitliche Dimensionen in sich und setzt Hellhörigkeit auf die politische Tönung dieser Modelle gesellschaftlicher Steuerung voraus.

Es ist also ein Projekt mit hohem Anspruch. So werden nicht nur bekannte Figuren neu diskutiert (wie etwa die weithin als Gründerfiguren des Neoliberalismus gehandelten Wilhelm Röpke oder Michael Polanyi) und neoliberale Schlagworte («Ordnung», «Bürokratie», «Freiheit», «Märkte») kritisch revidiert und vertieft. Vielmehr begeben sich die Autorinnen und Autoren auf seitab führende Reflexionsfiguren und «travelling concepts» aus der jüngeren Geschichte der Sozial- und Kulturwissenschaften, die in ihren Effekten auf politische Felder ausgeleuchtet werden («Migration», «Identitätspolitik», «lokales Wissen», «Öffentliche Meinung»).

Dies ermöglicht dialektische Zangenbewegungen und erweitert Ursachen und Effekte neoliberaler Konzepte und Agenden weit über ein enges Verständnis von Politik und Wirtschaft hinaus. Gerade im Blick auf die Ränder des scheinbar auf die westliche Moderne geeichten Konzepts Neoliberalismus wird diese politische Wissensgeschichte richtig spannend: etwa wenn Monika Dommann die Herausbildung von Wissen über informelle Ökonomie zwischen Peru und der Schweiz im Ausgang des Kalten Kriegs untersucht oder Stuart Halls ethnologisches Konzept eines «Lokalen Wissens» im Beitrag des vierköpfigen Herausgeberkollektivs enggeführt wird mit der Ausprägung eines identitären Kulturbegriffs in der transnationalen Neuen Rechten. Dies betrifft nicht nur die Ebene des Diskurses, sondern resultiert aus konkreten Praktiken von Forschenden «vor Ort». In den 1960 bis 1980er Jahren hiess das oft: in den eben erst dekolonisierten Gebieten Südostasiens oder Afrikas.

Die Geschichte affektiv aufgeladener Konzepte wie Neoliberalismus, soviel wird klar, ist auch für die Historiker:innen kein Schauplatz, sondern ein Kampffeld (mit sich selbst), zumal in Beobachtungslagen wie der gegenwärtigen, in der die melancholische Illusion von Standortungebundenheit und Ungleichzeitigkeit definitiv aufgeplatzt ist. Umso aufregender ist es, Konzepten und ihrer Entstehung auf verschlungenen Wegen von (vermeintlichen) intellektuellen Urheberinnen bzw. Wegbereitern – wie der in den USA mythisch stilisierten Autorin Ayn Rand – in die umstrittenen, schon längst transnationalen Arenen zu folgen und dabei festzustellen, mit welchen politisch toxischen Auswirkungen solche Aneignungen und Schliessungen einhergehen können. Die Frage der politischen Nutzung dieser Begriffskritik bleibt dabei allerdings offen.

Zitierweise:
Fabian Saner: Rezension zu: Monika Wulz, Max Stadler, Nils Güttler, Fabian Grütter (Hg.), Deregulation und Restauration. Eine politische Wissensgeschichte, Berlin 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 497-498. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 497-498. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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