T. Robert: Des migrants et des revenants

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Titel
Des migrants et des revenants. Une histoire des réfugiées et réfugiés hongrois en Suisse (1956-1963)


Autor(en)
Robert, Tiphaine
Reihe
Collection Histoire 3164
Erschienen
Neuchâtel 2021: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
526 S.
von
David Tréfás, Universität Basel

«Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen», schrieb Max Frisch 1965 im Vorwort zu einem Buch über die italienische Arbeitsmigration in der Schweiz. Bei den Ungarn, die 1956/57 in die Schweiz gelangten, wurden Freiheitskämpfer erwartet. Das Staunen darüber war gross, dass auch hier «normale» Menschen kamen. Obwohl in vielen Studien der vergangenen Jahrzehnte thematisiert, halten sich die Mythen über die Ungarnflüchtlinge bis heute. Tiphaine Robert widerlegt diese Mythen in ihrer gründlich recherchierten Dissertation.

Bei allem Respekt für die über 200’000 Menschen, die Ungarn in der Folge des Aufstands 1956 und 1957 verliessen, betont auch sie, dass der kollektive Status «politischer Flüchtling» einer behördlich-politischen Entscheidung im Kalten Krieg geschuldet war, der in der Genfer Flüchtlingskonvention festgehalten war. Er sagt nichts über die wahren Fluchtgründe aus. Schon frühere Studien waren davon ausgegangen, dass sich der Anteil der politisch motivierten Flüchtlinge auf unter 10 % der Gesamtzahl belief. Robert führt die Fluchtentscheidungen denn auch nicht zuvorderst auf politische Beweggründe, sondern auf Ängste und Unsicherheiten, Leiden und Frustration, sozialen Druck sowie Hoffnungen und Erwartungen zurück. Schon die statistischen Daten aus Ungarn zeigen die Heterogenität der Fluchtgründe. Ausserdem war der typische ungarische Flüchtling ein junger, unverheirateter Arbeiter aus Westungarn oder Budapest – und oft stammte er aus Gegenden, wo es kaum zu Kampfhandlungen gekommen war. Robert reichert die statistischen Auswertungen mit Berichten von Emigranten an und integriert diese in ihre Untersuchung. Auch bei der Wahl des Aufnahmelandes spielten Zufälle und persönliche Gründe mit, selten war die Wahl politisch motiviert. Und während sich viele Flüchtlinge durchaus dankbar zeigten, so schreibt Robert auch von denjenigen, die sich nicht den Erwartungen des Gastlandes entsprechend verhielten: Von wohlhabenden Flüchtlingen, die sich in Cafés amüsierten; von Flüchtlingen, die das gespendete Geld im Kosmetikstudio ausgaben; von Personen, die das Aufnahmeland wechselten; von Selektionsprozessen in Aufnahmelagern durch Repräsentanten der Aufnahmeländer ähnlich einem Basar sowie von Selbstmorden in Lagern und von Lagerkoller.

Schliesslich thematisiert Robert auch jene Flüchtlinge, die nach Ungarn zurückkehrten. Die Autorin zeigt eindrücklich, wie die Rückkehr zum symbolischen Kampf zwischen West und Ost wurde und wie Aufnahme- wie Heimatland um die Rückkehrwilligen buhlen. Die meisten Rückkehrer waren junge Männer, die alleine in die Schweiz gekommen waren, beruflich keine hohe Qualifikation auswiesen und vornehmlich aus Westungarn stammten. Für die Schweiz geht Robert davon aus, dass von den ursprünglich gut 13'000 Flüchtlingen bis zum Jahr 1962 rund 1’600 in ein anderes Land weitergereist und 1'700 nach Ungarn zurückgekehrt waren. Auch hier spielten politische Gründe kaum eine Rolle. Als Gründe nennt sie vielmehr: Vertrauen, dass sich in Ungarn die Dinge zum Besseren wenden würden und das Regime den Flüchtenden vergebe; das Bedauern darüber, dass man überhaupt geflohen war, beziehungsweise dass sie von den Eltern über die Grenze geschickt worden waren, weil es sich um eine einmalige Gelegenheit gehandelt hatte; Schwierigkeiten bei der Integration im doch sehr anderen Gastland; die Unmöglichkeit, nach Übersee weiterzureisen, oder auch die Rückkehr zu einer ehelichen Beziehung, der man zeitweilig entrinnen wollte.

Robert verwendet eine Vielzahl von Primär- und Sekundärquellen in verschiedenen Sprachen und hat die Forschungsliteratur vollumfänglich rezipiert. Als Primärquellen dienen unter anderem Befragungsprotokolle der Rückkehrer durch die ungarische Polizei, 13’700 Karteikarten der Flüchtlingskartei im Archiv für Zeitgeschichte sowie 21 geführte Interviews mit Zeitzeugen. Nicht immer aber vermag Robert ihre Aussagen auf genuine Quellen zu stützen. In solchen Fällen zieht sie Quellen aus verwandten, aber doch fremden Kontexten heran. Mancherorts werden auch zu viele Belege zitiert, wodurch der Lesefluss etwas gestört wird.

Alles in allem aber bereichert das Buch die Forschung über Flüchtlinge im Allgemeinen und die ungarischen Flüchtlinge im Besonderen. Sie befreit diese aus den nach wie vor vorherrschenden ideologischen Bewertungsmustern und zeigt, mit welchen Sorgen und Nöten Flüchtlinge konfrontiert waren – und dass die Rückkehr manchmal wirklich der einzige Ausweg war.

Zitierweise:
David Tréfás: Rezension zu: Tiphaine Robert, Des migrants et des revenants. Une histoire des réfugiées et réfugiés hongrois en Suisse (1956–1963), Neuchâtel 2021 (Collection Histoire 3164). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 496-497. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 496-497. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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