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Titel
Strahlen im Kalten Krieg. Nuklearer Alltag und atomarer Notfall in der Schweiz


Autor(en)
Marti, Sibylle
Reihe
Krieg in der Geschichte 114
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Preis
512 S.
von
Claudia Kemper

Sibylle Marti legt in ihrer Dissertation eine umfassende Geschichte des Umgangs mit radioaktiver Strahlung in der Schweiz vor. Ihre Arbeit bietet wohl erstmals eine Wissens- und Wissenschaftsgeschichte des Atomzeitalters nach 1945, in der die militärische als auch zivile Ebene im staatlichen Umgang mit Atomtechnologie gleichrangig behandelt wird. Denn bislang stellten Arbeiten, die sich dezidiert dem Feld der Cold War Studies zuordnen, eher selten die problematische politische Aushandlung zwischen dem militärischen und zivilen Nutzungs- und Zuständigkeitsbereich atomarer Technologie und ihrer Folgen in den Mittelpunkt. Ziel der Arbeit ist es, die Kultur der Schweiz des Kalten Krieges – beschrieben als «Nuklearität» – entlang des Strahlenthemas und der Frage, wie in der Schweiz Strahlen regiert wurden zu erforschen. Die Studie versteht sich damit auch als Teil der Sicherheitsgeschichte, denn sie will die Prozesse verwaltungsinterner Wissensproduktion zur Versicherheitlichung von Strahlen nachvollziehen. Ein weiteres Forschungsfeld bildet die Geschichte von Strahlen und Radioaktivität und hier die Frage, wie Strahlenwissen in unterschiedlichen politischen Kontexten und Diskussionen entstand und sich veränderte.

Um sich dem komplexen Feld zu nähern, bilden die Begriffe «verteilte» bzw. «koordinierte» Sicherheit Ankerpunkte. Sie markieren, welche Regierungsrationalitäten wirksam wurden, wenn sich die im Zusammenhang mit der Beherrschung von Strahlen produzierten Sicherheitsdispositive entweder auf einen Normal- oder auf einen Notfall bezogen. Die Unterscheidung war sowohl wissenschaftlich als auch politisch brisant, da im «Normalfall» jene politischen Regeln und dezentralen Institutionen handelten, die verfassungsrechtlich vorgesehen waren, während für den Notfall das koordinierte Zusammenarbeiten grösstenteils nur vorbereitet werden konnte, durch Simulation, Alarmorganisation und medizinische Prävention. Als schliesslich 1986 mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl der Ernstfall eintrat, zeigte sich das gesamte «Strahlen»-System der Schweiz wenig eingeübt.

Nach dieser Struktur gliedert sich der gesamte Band, wobei das Kapitel «Normalfall» in Forschen, Überwachen und Regulieren unterteilt ist und das Kapitel «Notfall» in Simulieren, Alarmieren und Retten. Diese systematische Herangehensweise macht es Lesenden möglich, komplizierten Vorgängen separat zu folgen bzw. dezidierte Vertiefungen vorzunehmen. So wird etwa unter «Forschen» der Aufbau und Niedergang der Schweizer Strahlenbiologie rekonstruiert, die von Konkurrenz zwischen zivilen und militärischen Stellen geprägt war. Unter «Überwachen» wiederum stehen die Apparaturen und Geräte zur Überwachung von Strahlung im Mittelpunkt, wobei unter anderem der Zusammenhang zwischen Messkonjunkturen und Bedrohungswahrnehmungen ins Auge fällt. In «Regulieren» zeichnet sich schliesslich ab, wie der Strahlenschutz kontinuierlich und vor allem ab Anfang der 1970er Jahre an politischer Bedeutung gewann.

Auf der Basis zahlreicher Akten rekonstruiert Marti die Strahlengeschichte der Schweiz als einen immensen Verwaltungs- und Organisationsakt, der sich aber erst im Laufe des Kalten Krieges und im Zuge zahlreicher Debatten über Bedrohungslagen und Sicherheitsrisiken als solcher vollzog. Bestehende und viele neugegründete Institutionen waren beteiligt wie etwa das Bundesamt für Gesundheitswesen, die Eidgenössische Kommission für Strahlenschutz, das Eidgenössische Militärdepartment, die Kommission für Atomwissenschaft oder die Zentralstelle für Gesamtverteidigung. Verfügten die Bundesbehörden zu Beginn des Kalten Krieges noch über wenig eigenes Know-how über Atomtechnologie und ihre Strahlenwirkung, besetzten sie bis Ende der 1960er Jahre mit eigenem Wissen und eigenen Stellen zunehmend das Feld. Bis dahin hatten vor allem Wissenschaftler und zudem, wegen der «angestrebten totalen Landesverteidigung» (S. 441) das Militär eine vorrangige Stellung in der Produktion von Strahlenwissen. Nach der Atomkriegsangst unmittelbar nach 1945 propagierten staatliche Stellen zunehmend die zivile Nutzung von Atomenergie kongruent zur internationalen Konjunktur. Die zunehmende wissenschaftlich fundierte Kritik und das zivilgesellschaftliche Engagement gegen die Nutzung von Atomenergie nahmen in den 1970er Jahren zu und richteten sich vor allem gegen die von den Behörden regulierte und überwachte Strahlenpolitik. Unerwähnt bleibt, ob und in welcher Form die Teilkernschmelze des Schwerwasserreaktors in Lucens im Jahr 1969 dazu beigetragen hat. Marti setzt 1986 und die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl als Zäsur, durch die für das «Regieren von Strahlen» der Ernstfall eintrat und in der Folge vor allem die Informationspolitik des Bundes kritisiert wurde. Erst danach fand nach Martis Aussage «eine Professionalisierung der Sicherheitsdispositive gegen Strahlen statt» (S. 443), indem die zuständigen Verwaltungsstellen aufgewertet und mit mehr Kompetenzen ausgestattet wurden und die auf Milizbasis arbeitenden Expertenkommissionen an Einfluss verloren. Das jahrzehntelange Vorbereiten auf den Ernstfall kulminierte schliesslich in einer politischen Institutionalisierung des Strahlenwissens.

Marti hat eine ebenso detailreiche wie wertvolle Wissensgeschichte zur Schweizer Strahlenpolitik im Kalten Krieg vorgelegt. Sie verfolgt konsequent den Ansatz einer Gouvernementalitäts-Analyse, der es darum geht, die Herstellung und Regulierung von machtvollem Wissen zu dekonstruieren. Dies über einen Zeitraum von gut 40 Jahren nachzuvollziehen, kann jedoch auf Dauer auch etwas orientierungslos machen. Die Lesende wünscht sich ab und an etwas mehr kontextualisierende Ereignisgeschichte sowohl zur Schweiz als auch zum Kalten Krieg, der meist seltsam blass im Hintergrund verbleibt. Zuvorderst hätte etwas mehr politische Analyse dem Themenkomplex gutgetan, also die kritische Einordnung der politischen Akteure und staatlichen Stellen. So ist zwar des Öfteren von einer «männlichen Elite» die Rede, die die Strahlenpolitik massgeblich bestimmte und von Machtkonflikten zwischen den Behörden sowie von Volksentscheiden und «dem Volk», aber die Begriffe beschreiben lediglich, als dass sie kritisch eingeordnet werden. Denn mit dieser wichtigen Studie drängen sich weitergehende Fragen auf. Wie verhandeln und entscheiden Demokratien über Risiken, Normalzustände und Notfälle? Welcher Wandel demokratischer (und damit auch machtpolitischer) Praxis lässt sich an der Schweizer Strahlenpolitik nachvollziehen? Die Studie gibt reiches Material, um sich nicht nur wissenshistorisch, sondern auch politikhistorisch und aktuell mit dem Thema zu befassen.

Zitierweise:
Claudia Kemper: Rezension zu: Marti Sibylle, Strahlen im Kalten Krieg. Nuklearer Alltag und atomarer Notfall in der Schweiz, Schöningh 2020 (Krieg in der Geschichte 114). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 494-496. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 494-496. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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