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Titel
Verwaltete Familien. Vormundschaft und Fremdplatzierung in der Deutschschweiz, 1945–1980


Autor(en)
Janett, Mirjam
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
von
Markus Furrer

Mirjam Janett rückt in ihrer Studie den forschenden Blick auf die «verwaltete Familie» in der deutschsprachigen Schweiz. Sie wählt dafür einen komparatistischen Ansatz und vergleicht die beiden stark «kontrastierenden» Kantone Basel-Stadt und Appenzell Innerrhoden. Die beiden stehen stellvertretend für Entwicklungen im städtischen und ländlichen Raum der Schweiz. Der untersuchte Zeitraum (1945–1980) ist für die Thematik insofern interessant, vollzog sich doch ein vielbeachteter sozioökonomischer und institutioneller Wandel, der sich in der Sozialpolitik spiegelte. Im Fokus der Untersuchung stehen Vormundschaft und Fremdplatzierung, Begriffe, die eingangs erörtert sind. Verschiedene Entwicklungslinien werden sichtbar gemacht: So gingen trotz wirtschaftlicher Hochkonjunktur zu Beginn der Untersuchungsperiode die Platzierungen nicht einfach zurück, was vordergründig überraschen mag. Bereits in den 1950er-Jahren differenzierte sich die Medikalisierung in der Kinder- und Jugendfürsorge in Basel-Stadt und zehn Jahre verzögert auch in Appenzell Innerrhoden. Sichtbar ist dies daran, dass in behördlichen Zuschreibungen medizinisch-psychiatrische Begründungen verstärkt genutzt wurden. Mirjam Janett verweist diesbezüglich auf ein Beispiel eines zehnjährigen Mädchens, dem 1948 von Basler Behörden attestiert wurde, an «endogenem Schwachsinn vom Grade einer Imbezillität» zu leiden (S. 208). Normalität wurde so zu einem gewichtigen Bezugspunkt und ging mit psychologischen Konzepten und therapeutischen Massnahmen einher. Als nämlich das «bürgerliche» Familienmodell in den 1960er-Jahren ins Wanken geriet, rückte das Individuum und dessen Verhalten in den Vordergrund behördlicher Zugriffe.

Die Studie widmet sich insgesamt fünf Aspekten, die im Kontext der Fremdplatzierung und der «verwalteten Familie» stehen und gerade den zeitlichen Verlauf mit den darin stattfindenden Entwicklungen gut wiedergeben. Es sind dies: «Der Staat, die Fürsorge und das Kind», «Ordnung schaffen: Die Vormundschaftsbehörden», «Die Familie im Fokus», «Fremdplatzierungen begründen» und «Im Visier der Humanwissenschaften». Mirjam Janett orientiert sich bei Ihrer Untersuchung an der «praxeologischen Wende» und widerlegt verschiedene verbreitete Vorstellungen: So wird die Fremdplatzierung als dezidierter Bestandteil der schweizerischen Fürsorge- und Sozialpolitik erfasst und als Regierungstechnologie gedeutet. Damit widerspricht die Autorin einer weithin gängigen Deutung, die die Geschichte des modernen Wohlfahrtsstaats als jene der modernen Sozialversicherung interpretiert. Dieses Narrativ lässt sich insofern hinterfragen, macht doch die Autorin eine «überraschende Persistenz von auf Zwang beruhenden sozialpolitischen Interessen» aus (S. 9). Auch nicht zutreffend ist die verbreitete Vorstellung einer schwachen Staatstätigkeit, wies doch gerade in der gesellschaftspolitisch liberal geprägten Schweiz das Politikfeld der Kinder- und Jugendfürsorge eine hohe Regulierungsdichte auf. Zudem wird deutlich, dass entgegen herkömmlichen Vorstellungen fürsorgerische Aufgaben vom Staat (hier der Kanton und die Kommune) nicht einfach ausgelagert, sondern private und parastaatliche Einrichtungen vielmehr eng eingebunden wurden, was sowohl für Basel als auch Appenzell zutraf. Dabei behielt der Staat in beiden Modellen die Oberaufsicht. Und auch wenn in Basel im Verlauf der Untersuchungsperiode eine Zurückhaltung in der Anstaltsversorgung festzustellen ist, so nahm die Kontrolle der Familien durch Behörden doch leicht zu (S. 146); auch die Massnahmen zur Überwachung Minderjähriger wurden ausgeweitet. Es gelang zudem dem Basler Jugendamt, Ende der 1970er-Jahre Eltern von der Fremdunterbringung vermehrt zu überzeugen und so machte das Amt bei mehr als 75 Prozent der Fremdplatzierungen vom amtlichen Jugendschutz keinen Gebrauch. Altruistisch war diese Politik kaum, wie Mirjam Janett analysiert, standen im Vordergrund doch ökonomische Überlegungen mit der Absicht, Jugendliche beim Übertritt ins Erwachsenenleben in den Arbeitsprozess zu integrieren (S. 151).

Als Haupterkenntnisse der höchst anschaulich gestalteten Studie lässt sich festhalten: Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Familie Bezugspunkt sozial-politischer Debatten. Dabei waren jedoch wenige Bereiche so umstritten wie die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen, wirkte sich diese doch nicht nur massiv auf die Lebensbiografie des Individuums aus, sondern ebenso auf dessen Familie. Die Studie widmete sich hierbei der Behördenlogik, die dies veranlasste. Unterschiedlich waren die Vorgehensweisen zwischen Stadt- und Landkanton: Während Basel-Stadt einer Präventionslogik folgte, dominierten in Appenzell noch länger Sanktionierungen. Das hängt mit dem höheren Grad an sozialer Kontrolle und Konformität im ländlichen Raum zusammen. In Basel hingegen intervenierten Behörden, um der angeblichen Schädigung des Individuums vorzubeugen. Pikant ist, dass im Laufe der Zeit mit dem Rückgang bürgerlicher Wertenormen durch den Einfluss der Humanwissenschaften Normalität zur neuen Denkfigur wurde, indem sich Fürsorgerinnen und Fürsorger, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Behörden das Deutungsangebot der Wissenschaft im Umgang mit «schwierigen» Kindern zu Nutze machten. Auch diesbezüglich zeigen sich zeitliche und räumliche Differenzen, wenn im Kanton Appenzell-Innerrhoden noch länger «Verwahrlosung» dominierte, während in Basel-Stadt die psychologische Wende schon früher einsetzte. Dabei stand, wie die Studie anschaulich zeigt, Fremdplatzierung für die «Ambivalenz der Moderne» im Umgang mit devianten Familien und in einem Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Disziplinierung. Mirjam Janett zeigt in ihrem Buch facettenreich auf, wie Fremdplatzierung ein wirkungsmächtiger Differenzmotor war, der Normalität und Abweichung festlegte. Die als Dissertation an der Universität Basel verfasste Studie trägt so zu gewichtigen neuen Erkenntnissen in der Familienpolitik bei und setzt neue Akzente bei der Einordnung der schweizerischen Sozialpolitik.

Zitierweise:
Furrer, Markus: Rezension zu: Janett, Mirjam: Verwaltete Familien. Vormundschaft und Fremdplatzierung in der Deutschschweiz, 1945–1980, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 490-492. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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