A.-F. Praz u.a.: L’histoire du placement d’enfants en Suisse, XIXe-XXe siècles

Cover
Titel
Placés, déplacés, protégés ?. L’histoire du placement d’enfants en Suisse, XIXe-XXe siècles


Autor(en)
Praz, Anne-Françoise; Droux, Joëlle
Reihe
Collection Focus 33
Erschienen
Neuchâtel 2021: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
142 S.
von
Bloch Lea

Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen sowie fürsorgerische Zwangsmassnahmen, wie sie in der Schweiz von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins späte 20. Jahrhundert verfügt und vollzogen worden waren, rückten erst in den 1990er-Jahren in den Fokus der Forschung und der Öffentlichkeit. Auch das Sinergia-Projekt «Placing Child in Care: Child Welfare in Switzerland (1940–1990)» trug zur Erforschung der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen bei. Im Rahmen dieses Projektes arbeiteten Forschungsgruppen von fünf verschiedenen Hochschulen aus der Deutschschweiz und der Romandie interdisziplinär zusammen. Mit dem Buch «Placé, déplacé, protégés?» veröffentlichten die Historikerinnen Joëlle Droux und Anne-Françoise Praz, die erste Übersicht über die Resultate des Projekts in französischer Sprache.

Die Autorinnen begeben sich auf die Suche nach möglichen Antworten auf die Fragen, warum ein System, das für den Kindesschutz geschaffen wurde, nicht funktionierte, bei den Betroffenen zu Traumata führen sowie deren soziale Diskriminierung verstärken konnte. Des Weiteren arbeiten sie Elemente heraus, die Reformen förderten oder bremsten. Die beiden Forscherinnen stellen zudem die allgemeine Frage, was die Geschichte der Fremdplatzierung von Kindern über die Sozialgeschichte der Schweiz aussagt. Sie stellen dabei klar, dass sie nicht als Richterinnen urteilen wollen; ein Anspruch, den sie auch durchweg einhalten.

Auf bloss 142 Seiten versuchen die beiden Historikerinnen diese Fragen zu beantworten. Sie schneiden diverse Thematiken an und gehen mit ihrem Werk in die Breite und nicht in die Tiefe. Sie erklären einleitend, dass sie einem breiten Publikum einen historischen Überblick verschaffen wollen und hoffen, dass Betroffene in diesem Buch Antworten auf einige ihrer Fragen finden. Für Personen, die sich bereits mit dem Thema befasst haben, mag die Kürze des Werks die Hauptschwäche sein, denn sie lernen relativ wenig Neues. Für die breite Leserschaft ist die Kürze wiederum genau eine seiner Stärken. Auf wenigen Seiten erfährt diese Anspruchsgruppe wertvolles Wissen und das Essentielle über Fremdplatzierungen in der Schweiz.

Das Buch ist in zehn Kapitel unterteilt und in zwei chronologische Teile gegliedert. Der erste Teil deckt den Zeitraum zwischen 1850 und 1940 ab. Darin beschreiben Droux und Praz als erstes die Einführung der Fremdplatzierungspraxis und die Entstehung von Institutionen, wie Heimen oder Besserungsanstalten. Die folgenden drei Kapitel thematisieren die Entwicklung der Fremdplatzierung. Mit der Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) im Jahr 1912 wurde ein Grundstein für eine nationale Praxis des Kindesschutzes gelegt. Kinder und Jugendliche, die als «verwahrlost» oder «moralisch gefährdet» galten, konnten fortan auf Grundlage des ZGB fremdplatziert werden. In der Anfangsphase des schweizerischen Sozialstaats war die Fremdplatzierung von Kindern die meistgewählte Kindesschutzmassnahme. Das System des Kindesschutzes, bei dem eigentlich das Wohl des Kindes im Vordergrund hätte stehen sollen, bestrafte jedoch häufig Eltern aus der Unterschicht. Die Autorinnen kritisieren, dass die Fremdplatzierung als Heilmittel für viele ganz unterschiedliche Situationen betrachtet wurde. Droux und Praz erklären, dass die Entstehung der Jugendgerichtbarkeit auf der ambivalenten Sichtweise basierte, dass ein Kind als Opfer einer schlechten Erziehung wahrgenommen wurde und einerseits als «umerziehbar» und «formbar» betrachtet wurde, während es andererseits aber auch ein Risiko für die Gesellschaft darstellte. Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) von 1942 folgte der Logik, dass Jugendliche nicht mehr bestraft und weggesperrt werden müssten, sondern ihr Verhalten unter Aufsicht geändert werden sollte. Die Historikerinnen veranschaulichen, dass, trotz der Einführung des StGB, die Kantone das Jugendrecht nicht einheitlich geregelt hatten und arbeiten Unterschiede zwischen der Romandie und der Deutschschweiz heraus.

Im zweiten Teil gehen die Historikerinnen auf die Kritik am System der Fremdplatzierung und dessen Reformen ein. Dabei nehmen sie den Zeitraum von 1900 bis in die Gegenwart ins Blickfeld. Sie greifen bereits besprochene Zeiträume nochmals auf, setzen jedoch einen anderen Schwerpunkt. Diesen Teil beginnen Droux und Praz mit einer Analyse der Fehlfunktionen des Systems der Fremdplatzierung. Dabei weisen sie auf die Problematik hin, dass die Finanzierung bei der Unterbringung der Kinder und Jugendlichen stets eine zentrale Rolle spielte. Der Anspruch der öffentlichen Hand, die Kosten der Platzierung möglichst tief zu halten, führte dazu, dass sich viele Entscheidungen nicht am Wohl des Kindes orientierten. Im Folgenden zeigen die Autorinnen auf, wie die Geschichte der Fremdplatzierung Mitte des 20. Jahrhunderts vom Verlangen nach Reformen und deren Verhinderung geprägt war. Ziel der Reformbestrebungen in den 1950er-Jahren war es, die Situation in den Institutionen zu verbessern: Heime sollten kleiner und familiärer werden. Doch auch hier spielte das Geld eine massgebliche Rolle, denn die Autorinnen nennen die fehlenden finanziellen Mittel als Schlüsselfaktor für das Scheitern von Reformen und als eine der Hauptursachen für die andauernde Dysfunktionalität des Systems. Die folgenden Reformbestrebungen der 1960er- und 1970er-Jahre hatten vor allem in der Deutschschweiz die Schliessung von Anstalten und Emanzipierung der Insassen zum Ziel (die sogenannte Heimkampagne). Doch Widerstände gegen Reformen sollten sich als anhaltend stark erweisen und die föderalen Strukturen der Schweiz erschwerten jegliche Bemühungen zusätzlich. Anschliessend analysieren die Autorinnen die Auswirkungen der Fremdplatzierung auf Betroffene. So wurden beispielsweise viele Heimkinder in der Schule stigmatisiert und die Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch konnten zu Minderwertigkeitsgefühlen führen. Es folgt die Identifikation von Faktoren, die in den 1960er- und 1970er-Jahren dazu beitrugen, Kinder- und Jugendschutzpolitik auf einer neuen materiellen und ethischen Grundlage zu begründen. Insbesondere die Revisionen des StGB und des ZGB sowie die Einführung der nationalen Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern PAVO in den 1970er-Jahren ermöglichten Veränderungen. Im letzten Kapitel beschreiben Droux und Praz, wie die Thematik der Fremdplatzierung den Weg in die aktuelle öffentliche Debatte fand und ein politischer Prozess zur Anerkennung des Leids der Betroffenen ausgelöst werden konnte.

Joëlle Droux und Anne-Françoise Praz gelingt es in ihrem Werk, einen kompakten Überblick über die Geschichte der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz zu geben. Eine Stärke des Werks ist es, dass sie die Dynamiken hinter einem bisweilen dysfunktionalen System verständlich beschreiben, dabei in ihrer Kritik immer differenziert bleiben und die Auswirkungen auf die Betroffenen herausarbeiten.

Zitierweise:
Bloch, Lea: Rezension zu: Praz, Anne-Françoise; Droux, Joëlle: Placés, déplacés, protégés ? L’histoire du placement d’enfants en Suisse, XIXe-XXe siècles, Neuchâtel 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 488-490. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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