S. De Pretto: Im Kampf um Geschichte(n)

Cover
Titel
Im Kampf um Geschichte(n). Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol


Autor(en)
De Pretto, Sebastian
Reihe
Formen der Erinnerung 71
Erschienen
Göttingen 2020: V&R unipress
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 65,00
von
Markus Wurzer

Seit 2020 liegt die 2019 verteidigte Dissertationsschrift des Schweizer Historikers Sebastian De Pretto als Monografie vor. Wenngleich bereits zwei Jahre alt, liest sich das Buch hochaktuell. Es geht um die Frage, wie und zu welchem Zweck sich Gesellschaften (nicht) an ihre kolonialen Vergangenheiten erinnern; eine Frage, die in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die Black-Lives-Matter-Bewegung breite gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat.

De Prettos Studie widmet sich der erinnerungskulturellen Funktion des Italienisch- Abessinischen Kriegs (1935–1941) in Italiens nördlichster Provinz Bozen/Bolzano, auch bekannt als Südtirol/Alto Adige, weil der dort schwelende Streit zwischen den italienisch- und deutsch-nationalistischen Kulturnationalismen um die Zugehörigkeit der Region im «Europa des 20. Jahrhunderts einmalig» (S. 16 f.) sei. Anhand des Abessinienkriegs will er die Konkurrenzsituation der Kollektivgedächtnisse der beiden Lager untersuchen. Den Kolonialkrieg wählt er als Untersuchungsgegenstand aus, da «an diesem die internen Widersprüche der kulturnationalistischen Lager sowie deren gegenseitige Spannungsverhältnisse sichtbar werden» (S. 19).

Der Autor verortet sein Werk in zwei Forschungstraditionen: Er bezieht sich erstens auf die Gedächtnistheorie und hierbei vor allem auf Pierre Noras Erinnerungsorte, worunter für De Pretto «nicht nur geographische Topoi fallen, sondern jedwede öffentliche Brennpunkte von kollektiven Gedächtnisdiskursen, über welche Gruppenzugehörigkeiten und Identitätskonzeptionen miteinander ausgehandelt werden» (S. 25). Zweitens knüpft De Pretto an eine Regionalgeschichtsschreibung an, die sich in der Provinz seit den 1990er-Jahren entwickelt habe (S. 28). In der Verknüpfung der beiden Felder entstehe folglich die Lücke, die De Pretto zu bearbeiten beabsichtigt: Schliesslich gebe es «bis dato kaum Publikationen, die das Forschungskonzept der Erinnerungsorte auf Südtirol anwenden » (S. 31). Ausserdem gebe es für die Geschichte des Abessinienkriegs einen Nachholbedarf an regionalen Studien (S. 34).

Eingangs formuliert De Pretto zwei Leitfragen: «Welche Funktion wurde dem Abessinienkrieg innerhalb des kollektiven Gedächtnisses der Südtiroler Bevölkerung zu welcher Zeit eingeräumt und an welchen regionalen Erinnerungsorten zeichneten sich die entsprechenden Geschichtsbilder ab» (S. 35)? Um die Fragen zu beantworten, entwirft der Autor einen theoretisch-methodischen Zugang, der das Untersuchungsmodell des Giessener Sonderforschungsbereichs 434 und das Gedächtnisraum-Konzept von Harald Schmid kombiniert: Während sich Ersteres sowohl für kulturspezifische Rahmenbedingungen als auch konkrete Erinnerungsarbeit interessiert, plädiert Schmid für eine Fokussierung auf Regionen (anstatt auf Nationen) (S. 35).

Für die Analyse gibt De Pretto zu bedenken, dass «die Auswahl erinnerungskultureller Knotenpunkte auf diejenigen Orte beschränkt werden [muss], an denen die kollektive Erinnerung an den Abessinienkrieg immer wieder von neuem öffentlich ausgehandelt wurde» (S. 38). Dementsprechend konzentriert sich die Analyse auf vier Fallbeispiele: das Alpini-Denkmal in Bruneck/Brunico, den Strassennamenkatalog von Bozen/Bolzano, Heimatbücher und Zeitzeugenberichte (S. 38). Die Auswahl überzeugt: Während beim Denkmal der Deutungsstreit nationalistischer Gruppen adressiert wird, werden mit den Strassennamen Erzählungen Thema, die sich «überwiegend an einer von Rom aus diktierten Geschichtspolitik orientieren» (S. 40). Die Analyse der Heimatbücher informiert dagegen über die deutsch-nationalistische Interpretation des Kolonialkriegs (S. 41 f.). Zuletzt kommen die deutschsprachigen Veteranen zu Wort, die nach langem Schweigen erst durch ein Zeitzeugenprojekt 2004 eine Stimme erhielten, wobei sie durchaus von der deutsch-nationalistischen Interpretation abweichende Positionen artikulierten (S. 328).

Jedem der vier Fallbeispiele widmet De Pretto ein Kapitel. In der abschliessenden Konklusion setzt der Autor an, seine vier eingangs formulierten Thesen (S. 21) zu verifizieren: So sei der Gedächtnisraum nach 1945 von kulturnationalistischen Vergangenheitserzählungen eingenommen worden. Beide Gruppen hätten dabei den Abessinienkrieg instrumentalisiert. Während ihn das italienischsprachige Lager genutzt habe, um die staatliche Zugehörigkeit der Provinz zu bekräftigen, habe er der deutschsprachigen gedient, um die faschistische Herrschaft in der Provinz zu verurteilen. Erst eine neue Generation an JournalistInnen und RegionalhistorikerInnen habe es geschafft, diese komplementären Deutungen aufzubrechen und den Weg für komplexere Zugänge zu bereiten (S. 329–335).

Alles in allem legt De Pretto ein beeindruckendes Buch vor, das vor allem durch eine methodologisch saubere und quellengesättigte Herangehensweise besticht. Gerade die Kapitel zum Alpini-Denkmal und den Strassennamen, die nicht nur ihre Entstehungen, sondern auch ihre lange Rezeptionsgeschichten in den Blick nehmen, sind über den regionalen Bezugsrahmen hinausgehend richtungsweisend. Der grösste Verdienst des Buches aber liegt darin, zu betonen, dass in Staaten nicht die eine koloniale Erinnerung existiert. Es gibt stets verschiedene Gruppen, die um Deutungshoheiten konkurrieren. Dabei muss es nicht unbedingt um die Ausdeutung der kolonialen Vergangenheit selbst gehen. Diese kann auch ‹nur› zur Projektionsfläche anderer Konflikte, in diesem Beispiel eben von Zugehörigkeitsdiskursen, werden. Insofern leistet das Buch nicht nur einen Beitrag zur Regionalgeschichte Südtirols/Alto Adiges, sondern auch zur aktuellen Debatte rund um das koloniale Erbe Europas. LeserInnen aus diesem Feld mag die Lektüre womöglich etwas schwerfallen, da der Autor auf eine Übersetzung italienischer Zitate sowie auf die Rekapitulation von Kontexten bezüglich des Abessinienkriegs sowie der Geschichte Südtirols/Alto Adiges verzichtet hat und stattdessen gleich in medias res geht. Der Aufwand, diese Hindernisse zu überwinden, lohnt sich aber allemal.

Zitierweise:
Wurzer, Markus: Rezension zu: De Pretto, Sebastian: Im Kampf um Geschichte(n). Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol, Göttingen 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (3), 2022, S. 484-468. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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