„Sacro Egoismo!“ firmierte am 21. und 22. März 1941 als Titel eines zweiteiligen Leitartikels in der Zeitung Vaterland. Er stammt aus der Feder von Heinrich Walther (1862–1954), der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis Mitte der 1940er-Jahre eine der zentralen Figuren des katholischen Milieus der Schweiz war. Seine politische Karriere führte ihn 1894 für über vierzig Jahre in die Regierung des Kantons Luzern. Auch auf Bundesebene hinterließ er bleibende Spuren. Von 1908 bis 1943 gehörte er dem Nationalrat an und von 1919 bis 1940 präsidierte er die katholisch-konservative Fraktion in der Bundesversammlung. Sein Taktieren und sein Netzwerken trugen ihm den Titel eines „Königsmachers“ bei Bundesratswahlen ein. Mit „Sacro Egoismo!“ betitelt auch Patrick Pfenniger seine Biografie über diesen „Königsmacher“, wobei nicht Walthers parteipolitisches Taktieren im Vordergrund steht, sondern das, was er im März 1941 im Vaterland skizzierte respektive postulierte. Unter „heiliger Selbstsucht“ – ein Begriff, der 1914 vom italienischen Politiker Antonio Salandra geprägt worden war – verstand der Luzerner Politiker einen „erlaubten, ja sogar vernünftigen und selbstverständlichen Egoismus“ (S. 191f.). Walther wollte die Selbstbestimmung der Schweiz wahren, was aber nach seinem Dafürhalten nur durch die teilweise Integration in das „neue Europa“ unter nationalsozialistischer Dominanz möglich sei. Er nahm somit eine Position ein, die in der Nachkriegszeit vor dem Hintergrund des kultivierten Selbstbildes der wehrhaften Schweiz als „anpasserisch“ bezeichnet wurde.
Die inhaltlichen Linien von Pfennigers Buch führen dramaturgisch auf besagten Artikel hin. Pfenniger will verstehen, woher Walthers Überzeugungen und Ansichten stammten und wie sie sich in sein langjähriges politisches und publizistisches Wirken einordnen lassen. Würden sich darin Sympathien zum NS-Staat finden oder stellte der resignierende Beitrag im Vaterland einen „Ausrutscher“ dar? Entsprechend werden die Haltung Walthers gegenüber dem NS-Staat und dessen Politik sowie seine Vorstellungen, wie sich die Schweiz gegenüber Deutschland verhalten solle, untersucht. Diese auf einer Dissertation an der Universität Luzern fußende Publikation kann in eine Reihe von Biografien eingereiht werden, die sich mit nationalkonservativen, bisweilen faschismusfreundlichen oder reaktionären Exponenten des katholischen Milieus befassen, zu denen Bundesrat Philipp Etter, Jean-Marie Musy oder Gonzague de Reynold gehörten.1
Insgesamt zeigen sich die Fragestellungen stark ausdifferenziert, bisweilen auch etwas fragmentiert. In den einzelnen Kapiteln werden sie regelmäßig durch zusätzliche Fragestellungen – teilweise auch in Form rhetorischer Fragen – ergänzt (zum Beispiel S. 147). Die vom Autor kritisch reflektierte Quellengrundlage umfasst den Nachlass Walthers, der eine überaus rege Korrespondenztätigkeit pflegte, sowie seine zahlreichen Zeitungsartikel. Walther war sehr darauf bedacht, wie ihn die Nachwelt sehen würde. Er vernichtete deshalb gezielt wichtige Teile seines Nachlasses. Es ist davon auszugehen, dass er besonders „heikle“ Korrespondenzen aussonderte, die etwa, so Pfenniger, seine Sympathien gegenüber faschistischen Frontenbewegung in der Schweiz offengelegt hätten (S. 27f.).
Pfenniger begnügt sich mit einem knappen theoretischen Rahmen. Zwei historiografische Ansätze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind für ihn von Bedeutung. Einem Postulat Marc Blochs folgend stellt Pfenniger das Verstehen in den Fokus. Um Walthers Handeln nicht nur aufzuarbeiten, sondern auch zu verstehen (S. 23), nimmt Pfenniger außerdem Bezug zu den Konzepten „Denkstil“ und „Denkkollektiv“ Ludwig Flecks. In einem Denkkollektiv tauschen mehrere Menschen Gedanken aus. Sie verfügen über ein (gleich-)gerichtetes Wahrnehmen, das Fleck Denkstil nennt. Pfenniger ist es wichtig zu betonen, dass Menschen verschiedenen Denkkollektiven angehören können. Walther gehörte dem katholischen Milieu an, war aber zugleich Teil von Denkkollektiven, denen auch milieufremde Partner angehörten. Je einflussreicher Walther wurde, desto stärker hätten nicht-katholische Einflüsse auf ihn eingewirkt, so Pfenniger (S. 25). An Walthers Beispiel zeigt der Autor, dass der Milieubegriff nicht zu rigide verwendet werden darf. Allerdings ist in seiner Studie eine historische Kontextualisierung des katholischen Milieus sowie des politischen Systems der Schweiz der Zwischenkriegs- und Kriegsjahre nur in Ansätzen vorhanden. Eine Verortung Walthers „in seiner Zeit“ geschieht primär anhand seines Netzwerks.
Pfennigers Buch definiert mit Blick auf die Fragestellung stringent die Jahre 1933 bis 1945 zu seinem Untersuchungszeitraum. Neun der zwölf biografischen Hauptkapitel widmen sich – in Perioden untergliedert – dieser Zeitspanne. Um Walther aber zu „verstehen“ – des Öfteren wirkt dieses Konzept etwas überstrapaziert –, widmen sich zwei Kapitel dem Leben Walthers vor der genannten Periode. Ein weiteres nimmt die Jahre nach 1945 bis zu seinem Tod 1954 in den Blick, wobei auch hier im Zentrum steht, wie unverständlich für Walther letztlich die Zeit von 1933 bis 1945 blieb. Nach der Einleitung thematisieren die vorgelagerten biografischen Kapitel zwei beschränkte Zeiträume. Zum einen ist dies die biografische Prägung Walthers im Kanton Luzern. Er begann seine gesellschaftliche Integration in Sursee als Ausländer – Walther war in der Nähe von Darmstadt geboren worden –, als Protestant und bald als Halbwaise. 1875 konvertierte er zum Katholizismus. Das anschließende Kapitel widmet sich dem Landesstreik von 1918, den Pfenniger zum Schlüsselmoment erklärt. Walther zeichnete sich durch seinen vehementen Rechtskonservatismus, Antisozialismus und seine Germanophilie aus. Diese Dimensionen blieben für ihn auch in den folgenden Jahrzehnten zentrale Leitlinien.
Welche Essenz extrahiert Pfenniger aus seiner gut lesbaren, in einigen Passagen aber auch etwas mäandernden Analyse von Walthers Wahrnehmung der NS-Herrschaftsjahre und seines publizistischen, gesellschaftlichen und politischen Agierens? Durchaus überzeugend führt er Walthers in „Sacro Egoismo!“ propagierte Integration der Schweiz in ein „neues Europa“ deutschen Zuschnitts konzeptionell darauf zurück, dass er die schweizerische Eigenstaatlichkeit bewahren wollte. Dafür war Walther aber bereit, etwa die Pressefreiheit zu opfern und eine Ausrichtung der Schweizer Wirtschaft auf den nördlichen Nachbarn vorzunehmen. Allerdings sollte nicht irgendeine Schweiz bewahrt werden, sondern seine Schweiz: eine Schweiz, die von rechtskonservativen Männern bestimmt würde und in der der politische Katholizismus eine bedeutende Rolle spiele, wie der Autor bilanziert (S. 300). Zwei Dinge müssen dabei bedacht werden. Zum einen ist Walthers Germanophilie zu nennen. Deutschland war für ihn ein Opfer des Vertrags von Versailles, genauso wie für ihn der Sieg Deutschlands im Zweiten Weltkrieg – wie schon im Ersten – sicherstand. Er erhoffte sich eine „Pax Germanica“ (S. 233). Diese Germanophile ist zwar nicht mit einer Befürwortung des Nationalsozialismus gleichzusetzen, verzerrte aber seine Wahrnehmung. Retrospektiv stellte für ihn die NS-Zeit eine Art „Betriebsunfall“ dar. Zum anderen verstanden er und sein Denkkollektiv sich als konservative Elite, die sich den „westlichen Werten“ von 1776 und 1789 nicht verpflichtet fühlte und aufklärungs- sowie demokratiekritischen Ansichten anhing. Walther sah sich als Figur, welche die Geschicke der Schweiz mitbestimmen konnte. Seine rege Netzwerktätigkeit zeigt gerade auch einen Aktivismus hinsichtlich des von ihm anvisierten Weges für die Schweiz. Er stand in regem Austausch mit mehreren Bundesräten (zum Beispiel Marcel Pilet-Golaz und Walther Stampfli) sowie zentralen germanophilen Akteuren mit ausgeprägter Nähe zum Frontismus (wie Eugen Bircher, Gustav Däniker und Ulrich Wille jun.). Auch der sich öfters in Deutschland aufhaltende Luzerner Treuhänder Albert Riedweg und dessen frontistischer Bruder Franz Riedweg gehörten dazu. Dieser war 1938 nach Deutschland emigriert und machte Karriere in der Waffen-SS. Der Kontakt zu Franz Riedweg stellt ein Beispiel dafür dar, dass sich Walther auch als Außenpolitiker verstand. Er wollte Informationen für die Schweiz besorgen und in Deutschland Goodwill für sein Land schaffen. Die Eidgenossenschaft sollte gefallen und nicht provozieren. Walther stand auch im Austausch mit dem hochrangigen nationalsozialistischen Funktionär Ernst von Weizsäcker, der 1949 in Nürnberg aufgrund seiner Beteiligung an der Deportation französischer Jüdinnen und Juden verurteilt wurde, und dem als deutschfreundlich geltenden Schweizer Diplomaten Hans Frölicher in Berlin. „Influenzieren“ nannte Walther sein Netzwerken.
Pfennigers Ausführungen sind lesens- und wissenswert. Er liefert eine detaillierte und differenzierte Analyse von Walthers Blick auf und von seiner Haltung gegenüber NS-Deutschland. Zugleich eröffnet er Einblicke in das Schweizbild eines elitären Rechtskonservativen. Eine vertiefte Analyse einiger Aspekte wäre spannend und wünschenswert gewesen. Zu nennen sind Walthers Antisemitismus und (vermeintlicher?) Prozionismus sowie seine Positionierung zu den Diskursen der sogenannten „Geistigen Landesverteidigung“.
Anmerkung:
1 Vgl. Thomas Zaugg, Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Eine politische Biografie, Basel 2020; Daniel Sebastiani, Jean-Marie Musy (1876–1952). Un ancien conseiller fédéral entre rénovation nationale et régimes autoritaires, in: Université de Fribourg, 2004, https://folia.unifr.ch/unifr/documents/300267 (27.06.2024); Aram Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz, Zürich 1994.