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Leyrers Studie über freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen um 1900, an der Universität Basel als Dissertation entstanden, setzt an dieser Leerstelle an und fragt, wie «die Freundin» jenseits der männlich gedachten Freundschaft theoretisch positioniert werden kann. Mit einer Geschichte der Freundinnen lässt sich nicht einfach die Geschichte der Freunde ergänzen, sondern «die Freundschafts-Geschichte von der Differenz her» (S. 11) erzählen, so argumentiert die Autorin. Die Beziehungen der Intellektuellen, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé (1861‒1937) zu Frieda von Bülow (1857‒1909), Ellen Key (1849‒1926) und Anna Freud (1895‒1982) stehen im Zentrum des Buches. Quellengrundlage bilden der unveröffentlichte Briefwechsel von Andreas-Salomé mit von Bülow und Key, die editierte Korrespondenz mit Anna Freud sowie zusätzliche veröffentlichte Schriften der Protagonistinnen. Mit Bezug auf die «Methode des wilden In-Bezug-Setzens» und anknüpfend an Roland Barthes und Jacques Rancière argumentiert die Autorin dafür, die «Resonanzen» in den Gesprächen zwischen den historischen Akteurinnen und damit ergänzende feministische, philosophische und sozialwissenschaftliche (auch nicht-zeitgenössische) Literatur beizuziehen. Damit soll eine Hierarchisierung des «erklärenden» und «erklärten» Diskurses aufgehoben werden (S. 18). Insgesamt greift Leyrer für ihre Argumentation auf einen reichen Fundus an theoretischen Arbeiten zurück. Methodisch sind ein mikrohistorischer Ansatz und die Unterscheidung zwischen Ort und Gegenstand der Untersuchung nach Clifford Geertz zentral: die Biografien und Beziehungen stellen den «Ort» dar, anhand dessen Leyrer Freundschaft zwischen Frauen untersucht (S. 14). Andreas-Salomé, aufgewachsen in St. Petersburg und bis heute vor allem wegen ihrer Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud in Erinnerung, steht zwar im Mittelpunkt der Untersuchung, dennoch handelt das Buch weniger von ihrer konkreten Person als vielmehr dem «Fall Lou Andreas-Salomé» (S. 15). Der Fall soll weder normalisiert noch isoliert werden, was in Bezug auf Andreas-Salomé bedeute, sie weder als «Frau neben den grossen Männern» noch als Ausnahmeerscheinung zu denken (S. 14). Der erste Teil «Politik der Freundin» widmet sich der Beziehung von Lou Andreas-Salomé und Frieda von Bülow, die sich 1892 in Berlin kennenlernten. Von Bülow war eine Schriftstellerin adliger Herkunft, die für eine Mitarbeit von Frauen in der deutschen Kolonialpolitik einstand. Leyrer fragt, inwiefern Freundschaft «eine Gleichheitsbeziehung ist, sein muss oder sein soll» (S. 20). Ausgangspunkt dazu bildet Joan Scotts These des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Feminismus und der modernen Demokratie: Die Individualitäts- und Gleichheitsversprechen der Moderne basierten auf dem Ausschluss der Frauen als das Andere, gleichzeitig schaffte die moderne Demokratie erst die Voraussetzung für feministische Kämpfe. Von Bülow und Andreas-Salomé verhielten sich sehr unterschiedlich zum Gleichheitsbegriff, wie es ihr Austausch und ihre Schriften über die Fähigkeiten von Frauen zur Literatur und zur Freundschaft verdeutlichten. Von Bülow beabsichtigte das «Einschreiben der Frau in jene paradoxe Begründung der modernen Gleichheit in der Individualität» (S. 42), indem sie Frauen und Männer zwar als verschieden begriff, aber von einer gemeinsamen Menschlichkeit ausging. Andreas-Salomé hingegen sah keinen Ort für Frauen in der männlichen Moderne – Freiheit läge für Frauen nicht in «Gleichheits-Zielen», sondern in der «weiblichen Lebensfähigkeit» (S. 49). Zeitgenössische Feministinnen wie Hedwig Dohm beurteilten Andreas-Salomés Aussagen als rückständig, da sie die Beschränkung von Frauen auf das Häusliche implizierten. Leyrer hingegen macht Parallelen mit den Ideen der Mailänder Feministinnen der 1980er-Jahre aus, die sich kritisch mit Gleichstellungspolitik auseinandersetzten und eine Anpassung an männliche Normen und Gegebenheiten ablehnten. Trotz ihrer unterschiedlichen Positionierungen blieben Andreas-Salomé und von Bülow befreundet. Der zweite Teil «Zärtliche Freundinnen» nimmt Andreas-Salomés Freundschaft zur renommierten, auch im deutschsprachigen Raum breit rezipierten schwedischen Pädagogin Ellen Key in den Blick. Key und Andreas-Salomé lernten sich kurz vor der Jahrhundertwende in frauenbewegten Kreisen Berlins kennen und pflegten anschliessend einen intellektuellen Austausch sowie zusehends eine intimere Beziehung: in ihren Briefen zeigten sich «Liebesbekenntnisse» oder «Zärtlichkeitsbeweise», «erotisierte Szenen» seien keine Seltenheit gewesen (S. 115). Die Grenzziehung zwischen Frauenfreundschaften und gleichgeschlechtlichem Begehren, so zeige auch die Sekundärliteratur, sei um die Jahrhundertwende unklar. Verbunden mit der Erotik spielen laut Leyrer im Denken der beiden Autorinnen Mütterlichkeit und Mutterschaft eine wichtige Rolle. Mütterlichkeit sei in der Frauenbewegung nicht nur um 1900, sondern bis heute eine «Kippfigur», und könne als «einseitige Festlegung, als Einengung der Frau erscheinen, genauso wie als Potenzial für gesellschaftliche Veränderung, als ethischer Faustpfand für eine weibliche Kultur» (S. 143). Die Ausführungen zu Mütterlichkeit könnten sowohl als eugenisch geprägt als auch als Denken einer neuen weiblichen Beziehungspraxis jenseits männlicher Logik verstanden werden. Der Austausch von Lou Andreas-Salomé mit der über 30 Jahre jüngeren Psychoanalytikerin Anna Freud steht im Zentrum des dritten Teils «Die Schwester, der Freundschaftstraum». Diese Freundschaft ging auf einen Besuch von Andreas-Salomé in Wien 1921 zurück. Trotz des beachtlichen Altersunterschieds entwickelte sich laut Leyrer eine horizontale, gar schwesterliche Beziehung. Die Autorin stellt die Frage, «ob nicht ein Denken von der Schwester her eine Option wäre, unser Denken der Freundschaft zu dezentrieren» (S. 161), also Freundschaft nicht mit Brüderlichkeit gleichzusetzen. Neben dem gemeinsamen Denken und Arbeiten der «Schwestern-Freundinnen», der Frage nach weiblicher Autorinnenschaft und der Position der Schwester in der Psychoanalyse beleuchtet Leyrer in diesem Kapitel die Funktion der Strickwaren, die Anna Freud für ihre Freundin anfertigte: Im «Häkeln und Stricken zu Andreas-Salomé hin» entstünde Nähe und Verbundenheit, gleichzeitig verweise der Herstellungsprozess darauf, dass Beziehung immer hervorgebracht werde (S. 191). Anna Leyrer gelingt es, «die Freundin» Lou Andreas-Salomé und damit Freundschaft fernab der «grossen Männer» und einer androzentrischen Logik zu denken. Sie betont das Potential von Freundschaft als Differenzbeziehung entgegen der «Gleichheitsobsession der Moderne» (S. 213) und zeichnet ein Bild von Andreas-Salomé als Feministin, die nicht auf Gleichheit und Anerkennung, sondern Differenz abzielte, woraus sich «viel kühnere und radikalere Utopien» (S. 214) ableiten liessen. Die Interpretation, die historischen Akteurinnen hätten mit ihrer Betonung von spezifisch weiblicher Kultur und Bezogenheit Beziehungen und damit wohl auch Gesellschaftsentwürfe jenseits patriarchaler Normen entworfen, erweist sich durchaus als inspirierend. Um deren transformatives Potenzial einschätzen zu können, wäre an verschiedenen Stellen eine ausführlichere Kontextualisierung der Protagonistinnen wünschenswert, insbesondere, wenn es um koloniale Verstrickungen oder Nähe zu faschistischen Ideen geht, wie es Hanna Hacker in einer früheren Rezension angemerkt hat.[1] Die Lektüre erweist sich weiter, vielleicht bedingt durch das «wilde in Bezug-Setzen», bisweilen als herausfordernd, immer aber sehr anregend. Die Autorin beeindruckt mit fundiertem theoretischem Wissen und originellen methodischen Zugängen, welche die disziplinären Grenzen zu sprengen vermögen. Anmerkungen [1] Hanna Hacker, Rezension zu: Leyrer, Anna: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900, in: H-Soz-Kult, 10. 06. 2022, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97545 (5.8.22). Zitierweise: Probst, Sarah: Rezension zu: Leyrer, Anna: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900, Göttingen 2021. Zuerst erschienen in: |http://www.sgg-ssh.ch/de/publikationen/schweizerische-zeitschrift-fuer-geschichte-szg|Schweizerische Zeitschrift für Geschichte| 72(3), 2022, S. 464-466. Online: ." 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Forschungsarbeiten der Frauen- und Geschlechtergeschichte fokussieren hier die Bedeutung der Frauenbewegungen und der Sexualwissenschaften, die historische „Erfindung“ und Pathologisierung nicht-normativer geschlechtlicher Identitäten, die Figuration der „spinster“ ebenso wie die der sexuell autonom begehrenden „Neuen Frau“.[1] Intersektionelle Perspektiven, queere Theorieansätze, Affektstudien, auch postkoloniale Kritik fließen in den letzten Jahren in diese Forschungen mit ein.[2] Vor diesem Hintergrund legt nun Anna Leyrer ihre bei Caroline Arni (Basel) und Maren Möhring (Leipzig) verfasste Dissertation mit dem nicht unbescheidenen Titel „Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900“ vor. Ihr Anliegen ist es, Freundschaft theoretisch so zu positionieren, dass sie nicht implizit Konzepte von „Männerfreundschaft“ voraussetzt, sondern die Figur der Freundin als diskursiven (und historischen) Ort begreifbar macht. „Die Freundin ist die Unzugehörige und Ungehörige der Freundschaft“ (S. 9); in dieser Perspektive befragt Leyrer Freundschaftsbeziehungen von Frauen um 1900. Für die Entfaltung ihrer Argumentation nutzt sie eine üppige Menge an kultur- und sozialwissenschaftlichen Literaturbezügen, von historischen Autor:innen wie Nietzsche, Simmel, Freud oder de Sade bis zu rezenteren großen Namen der Freundschafts-, Liebes- und Beziehungstheoreme und der (mikro-)historischen Annäherung, etwa Derrida, Barthes, Deleuze/Guattari, Luhmann, Rancière, Arendt, Irigaray, Butler und andere. Gleich anfangs betont Leyrer, es gebe den Biografien „wenig oder nichts hinzuzufügen“, was Erkenntnisgewinn brächte, zumal „über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte Rezeptionsgeschichte hinweg immer wieder ähnliche Geschichten“ erzählt würden. Statt die Texte der gewählten Autorinnen „auf bisher Verborgenes abzuklopfen“, orientiere ihre Lektüre sich daran, „auf das Mitreißende zu hören“ (S. 17); „auf das, was Resonanz erzeugt“ (S. 18). Als Quellen fungieren der bislang nur teilweise bearbeitete Briefwechsel von Lou Andreas-Salomé mit Frieda von Bülow, Ellen Key und Anna Freud sowie ausgewählte Publikationen dieser Autorinnen. Im Kontext der Frauen- und Geschlechtergeschichte, auch der Literatur- und Psychoanalysegeschichte zum Zeitraum um 1900 gelten diese vier Autorinnen als vergleichsweise namhaft. Die adelige Schriftstellerin Frieda von Bülow (1857–1909) engagierte sich für eine Beteiligung von Frauen in der deutschen Kolonialpolitik; Ellen Key (1849–1926) erfuhr als schwedische Essayistin intensive Rezeption in den geschlechterpolitischen Debatten im deutschsprachigen Raum; Anna Freud (1895–1982) war österreichisch-britische Psychoanalytikerin. Zentral setzt Leyrer in ihrer Studie Lou Andreas-Salomé (1861–1937), in Russland aufgewachsene Schriftstellerin und Analytikerin, die oftmals vor allem durch ihre Beziehungskonstellation mit Friedrich Nietzsche und Paul Rée wie auch durch ihre Analyse bei und berufliche Beziehung zu Sigmund Freud bekannt erscheint. Das erste der drei großen Kapitel, „Politik der Freundin“, widmet sich Korrespondenzen und weiteren Schriften von Lou Andreas-Salomé und Frieda von Bülow, die sich in den 1890er-Jahren in Berlin anfreundeten. Unter Referenz auf die grundlegende Bedeutung des Gleichheitsbegriffs für die Moderne und auf Joan Scotts prominenten Befund des paradoxalen Verhältnisses von Feminismus und Gleichheit[3] diskutiert Leyrer hier die sehr unterschiedlichen Argumentationen der beiden Freundinnen zu geschlechtlicher Differenz, Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit. „Mit der Freundin lässt sich die feministische Frage nach der Gleichheit neu stellen und, vielleicht, neu beantworten“ (S. 24). Das Weibliche im Verhältnis zu Natur, Leben und Lebendigkeit bildete eine der Reflexionsachsen von Lou Andreas-Salomé. „Post Nietzsche“, wie Leyrer es formuliert, strukturierten Kontroversen zu Moral und Dekadenz und mit ihnen die physiologische Verfassung, also „Lebensbereicherung“ oder „Lebensbeschränkung“, ihre Freundschaft. Frieda von Bülow fand reiche Kräftigung und Aufmunterung in ihren Aufenthalten in den deutschen Kolonien in Afrika. Der zweite Abschnitt des Buches, „Zärtliche Freundinnen“, thematisiert Aspekte der erotischen Bezogenheit unter (schreibenden) Frauen am Beispiel der Verbindungen zwischen Lou Andreas-Salomé und Ellen Key. Auch diese beiden begegneten sich in Berlin in frauenbewegten Kreisen und traten dann in langjährigen intensiven Austausch. Dabei ging es (unter anderem) um Konzepte von Erotik, wie sie Salomé in „Die Erotik“ (1910) und Key in ihrem Buch „Über Liebe und Ehe“ (1905) ausarbeiteten. Leyrer resümiert in diesem Kapitel Analyseansätze zu Freundinnenbindungen und gleichgeschlechtlichem Begehren in der Historiografie weiblicher Homosexualitäten sowie die in der feministischen Forschung kontrovers debattierte „geistige Mütterlichkeit“ als politisches Programm der gemäßigten Frauenbewegung vor (und nach) 1933. Mütterlichkeit und Erotik verbänden sich im Schreiben von Andreas-Salomé und Key; aus ihren Briefen spreche wechselseitige Zärtlichkeit, ein „erotischer Affekt“. Zeitweise nahmen sie eine dritte Figur in ihre Beziehung auf, adressiert als „Fortunata“, die nirgendwo genauer spezifiziert wird, auch nicht von Leyrer selbst, und wohl eine Phantasie bezeichnen könnte, erotische Energie, körperliche Erfahrung, möglicherweise eine reale Gestalt. Gesellschaft, so eine wichtige Schlussfolgerung, beginnt für diese Autorinnen wie vielleicht generell für Feministinnen um 1900 mit der Zweierbeziehung Mutter-Kind, nicht mit der heterosexuellen Zweierbeziehung. Das dritte Kapitel, „Die Schwester, der Freundschaftstraum“, behandelt die freundschaftliche Beziehung von Lou Andreas-Salomé mit Anna Freud. Der engere Kontakt der zwei Frauen begann um 1920, als Anna Freud den Rat einer erfahrenen Schriftstellerin suchte. Leyrer kombiniert hier Überlegungen zur „psychoanalytischen Familie“ und zum Topos der Schwester mit dem zwischen den beiden Freundinnen wiederkehrenden Motiv des Traumes, der erträumten innigen Verbindung. Lesen, Schreiben und das gemeinsame Träumen verquickten sich, Tagträume waren ein Grund für Anna Freuds Analyse bei ihrem Vater. Als schwesterliche Formation setzten sie sich mit Autorinnenschaft im fiktionalen Schreiben auseinander, da auch Anna Freud Prosa verfasste, ehe sie sich gegen das Ringen um „Heinrich Mühsam“ entschied – eine literarische Schöpfung, die ihr nicht gelingen wollte. Verwoben mit der Schwesterbeziehung erscheint die Praxis des „Bestrickens“. Anna Freud fertigte für ihre Freundin vielerlei Häkel- und Strickarbeiten an und vermochte so, mit ihrer Textur an die Haut der anderen zu rühren. Insgesamt bietet das Buch eine Überfülle an Assoziationen und lässt doch inhaltlich einiges vermissen. Bei aller interpretierender Präsentation bietet es kaum prägnantere Informationen zu den ausgewählten Akteurinnen. Wer über deren historische Verortung und politische und persönliche Handlungsstrategien, die ja nicht im Nietzsche-Lesen und Texteschreiben aufgingen, vor der Lektüre dieser Studie nicht schon recht genau Bescheid weiß, wird sehr ausgiebig auf eigene Recherchen angewiesen sein. Eine (etwaige) Kritik an den Positionen der diskutierten Autorinnen wiederum ist gar kein Anliegen der Autorin. Dies irritiert insbesondere da, wo es um Fragen des Engagements im kolonialen Projekt etwa bei Frieda von Bülow geht, und bei Entwürfen von Mütterlichkeit, deren Nähe zu faschistischen und nationalsozialistischen Ideologemen genauer zu problematisieren wäre. Hinsichtlich des Texttypus handelt es sich weit eher um mehrere, lose verbundene Essays denn um eine geschlossene akademische Abschlussarbeit. Leyrer formuliert oft Ad-hoc-Interpretationen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind; die punktuell anmutenden Befunde werden insgesamt recht wenig aufeinander bezogen und nicht so zusammengeführt, wie die Leser:in es sich vielleicht wünschte. Dies ergibt aber zugleich eine durchaus mitreißende, gleichsam kaleidoskopische Lektüre. Der Text hat Spielerisches, Experimentelles an sich; wir werden gleichsam Zeug:innen eines Freewritings auf dem sehr hohen Niveau einer äußerst belesenen, theoriekompetenten Autorin. Zudem liegt in Leyrers Duktus ein mimetisches Moment. Sie schreibt „fast wie“ die historischen Texte, auf die sie sich bezieht, auch dort, wo es nicht mehr um eine unmittelbare Paraphrase geht. Durchgängig im Präsens erzählend, wiederholt sie ein wenig altertümelnd und/oder ironisch die Wendungen der Philosophie, der Psychoanalyse und der Literatur des Fin de Siècle. So ermöglicht Leyrers „Die Freundin“ auf jeden Fall eine außergewöhnliche Leseerfahrung. Anmerkungen: [1] Zu den „Klassikerinnen“ zählen hier v.a.: Marie-Jo Bonnet, Un choix sans équivoque. Recherches historiques sur les relations amoureuses entre les femmes XVIe–XXe siècle, Paris 1981; Lillian Faderman, Surpassing the Love of Men. Romantic Friendship and Love between Women from the Renaissance to the Present, London 1981; Esther Newton, The Mythic Mannish Lesbian. Radclyffe Hall and the New Woman, in: Signs, 9, 4 (1984), S. 557–575. [2] Vgl. Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“, Österreich 1870–1938, Wien 2015. [3] Vgl. Joan W. Scott, Only Pradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Cambridge 1996." 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Leyrer: Die Freundin | infoclio - Rezensionen
Cover
Titel
Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900


Autor(en)
Leyrer, Anna
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 24,00
von
Sarah Probst, Historisches Institut, Universität Bern

Das kontinuierliche gesellschaftliche Desinteresse an Beziehungen zwischen Frauen, an Freundinnen, macht das Schreiben ihrer Geschichte zu einer Herausforderung, wie Anna Leyrer in ihrem Buch aufzeigt: Die Philosophie ‒ «von Aristoteles bis Nietzsche» (S. 9) ‒ konzipierte Freundschaft als eine Beziehung zwischen Männern, Freundinnen kam dabei ein marginaler Stellenwert zu. Leyrers Studie über freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen um 1900, an der Universität Basel als Dissertation entstanden, setzt an dieser Leerstelle an und fragt, wie «die Freundin» jenseits der männlich gedachten Freundschaft theoretisch positioniert werden kann. Mit einer Geschichte der Freundinnen lässt sich nicht einfach die Geschichte der Freunde ergänzen, sondern «die Freundschafts-Geschichte von der Differenz her» (S. 11) erzählen, so argumentiert die Autorin.

Die Beziehungen der Intellektuellen, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé (1861‒1937) zu Frieda von Bülow (1857‒1909), Ellen Key (1849‒1926) und Anna Freud (1895‒1982) stehen im Zentrum des Buches. Quellengrundlage bilden der unveröffentlichte Briefwechsel von Andreas-Salomé mit von Bülow und Key, die editierte Korrespondenz mit Anna Freud sowie zusätzliche veröffentlichte Schriften der Protagonistinnen. Mit Bezug auf die «Methode des wilden In-Bezug-Setzens» und anknüpfend an Roland Barthes und Jacques Rancière argumentiert die Autorin dafür, die «Resonanzen» in den Gesprächen zwischen den historischen Akteurinnen und damit ergänzende feministische, philosophische und sozialwissenschaftliche (auch nicht-zeitgenössische) Literatur beizuziehen. Damit soll eine Hierarchisierung des «erklärenden» und «erklärten» Diskurses aufgehoben werden (S. 18). Insgesamt greift Leyrer für ihre Argumentation auf einen reichen Fundus an theoretischen Arbeiten zurück. Methodisch sind ein mikrohistorischer Ansatz und die Unterscheidung zwischen Ort und Gegenstand der Untersuchung nach Clifford Geertz zentral: die Biografien und Beziehungen stellen den «Ort» dar, anhand dessen Leyrer Freundschaft zwischen Frauen untersucht (S. 14). Andreas-Salomé, aufgewachsen in St. Petersburg und bis heute vor allem wegen ihrer Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud in Erinnerung, steht zwar im Mittelpunkt der Untersuchung, dennoch handelt das Buch weniger von ihrer konkreten Person als vielmehr dem «Fall Lou Andreas-Salomé» (S. 15). Der Fall soll weder normalisiert noch isoliert werden, was in Bezug auf Andreas-Salomé bedeute, sie weder als «Frau neben den grossen Männern» noch als Ausnahmeerscheinung zu denken (S. 14).

Der erste Teil «Politik der Freundin» widmet sich der Beziehung von Lou Andreas-Salomé und Frieda von Bülow, die sich 1892 in Berlin kennenlernten. Von Bülow war eine Schriftstellerin adliger Herkunft, die für eine Mitarbeit von Frauen in der deutschen Kolonialpolitik einstand. Leyrer fragt, inwiefern Freundschaft «eine Gleichheitsbeziehung ist, sein muss oder sein soll» (S. 20). Ausgangspunkt dazu bildet Joan Scotts These des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Feminismus und der modernen Demokratie: Die Individualitäts- und Gleichheitsversprechen der Moderne basierten auf dem Ausschluss der Frauen als das Andere, gleichzeitig schaffte die moderne Demokratie erst die Voraussetzung für feministische Kämpfe. Von Bülow und Andreas-Salomé verhielten sich sehr unterschiedlich zum Gleichheitsbegriff, wie es ihr Austausch und ihre Schriften über die Fähigkeiten von Frauen zur Literatur und zur Freundschaft verdeutlichten. Von Bülow beabsichtigte das «Einschreiben der Frau in jene paradoxe Begründung der modernen Gleichheit in der Individualität» (S. 42), indem sie Frauen und Männer zwar als verschieden begriff, aber von einer gemeinsamen Menschlichkeit ausging. Andreas-Salomé hingegen sah keinen Ort für Frauen in der männlichen Moderne – Freiheit läge für Frauen nicht in «Gleichheits-Zielen», sondern in der «weiblichen Lebensfähigkeit» (S. 49). Zeitgenössische Feministinnen wie Hedwig Dohm beurteilten Andreas-Salomés Aussagen als rückständig, da sie die Beschränkung von Frauen auf das Häusliche implizierten. Leyrer hingegen macht Parallelen mit den Ideen der Mailänder Feministinnen der 1980er-Jahre aus, die sich kritisch mit Gleichstellungspolitik auseinandersetzten und eine Anpassung an männliche Normen und Gegebenheiten ablehnten. Trotz ihrer unterschiedlichen Positionierungen blieben Andreas-Salomé und von Bülow befreundet.

Der zweite Teil «Zärtliche Freundinnen» nimmt Andreas-Salomés Freundschaft zur renommierten, auch im deutschsprachigen Raum breit rezipierten schwedischen Pädagogin Ellen Key in den Blick. Key und Andreas-Salomé lernten sich kurz vor der Jahrhundertwende in frauenbewegten Kreisen Berlins kennen und pflegten anschliessend einen intellektuellen Austausch sowie zusehends eine intimere Beziehung: in ihren Briefen zeigten sich «Liebesbekenntnisse» oder «Zärtlichkeitsbeweise», «erotisierte Szenen» seien keine Seltenheit gewesen (S. 115). Die Grenzziehung zwischen Frauenfreundschaften und gleichgeschlechtlichem Begehren, so zeige auch die Sekundärliteratur, sei um die Jahrhundertwende unklar. Verbunden mit der Erotik spielen laut Leyrer im Denken der beiden Autorinnen Mütterlichkeit und Mutterschaft eine wichtige Rolle. Mütterlichkeit sei in der Frauenbewegung nicht nur um 1900, sondern bis heute eine «Kippfigur», und könne als «einseitige Festlegung, als Einengung der Frau erscheinen, genauso wie als Potenzial für gesellschaftliche Veränderung, als ethischer Faustpfand für eine weibliche Kultur» (S. 143). Die Ausführungen zu Mütterlichkeit könnten sowohl als eugenisch geprägt als auch als Denken einer neuen weiblichen Beziehungspraxis jenseits männlicher Logik verstanden werden.

Der Austausch von Lou Andreas-Salomé mit der über 30 Jahre jüngeren Psychoanalytikerin Anna Freud steht im Zentrum des dritten Teils «Die Schwester, der Freundschaftstraum». Diese Freundschaft ging auf einen Besuch von Andreas-Salomé in Wien 1921 zurück. Trotz des beachtlichen Altersunterschieds entwickelte sich laut Leyrer eine horizontale, gar schwesterliche Beziehung. Die Autorin stellt die Frage, «ob nicht ein Denken von der Schwester her eine Option wäre, unser Denken der Freundschaft zu dezentrieren» (S. 161), also Freundschaft nicht mit Brüderlichkeit gleichzusetzen. Neben dem gemeinsamen Denken und Arbeiten der «Schwestern-Freundinnen», der Frage nach weiblicher Autorinnenschaft und der Position der Schwester in der Psychoanalyse beleuchtet Leyrer in diesem Kapitel die Funktion der Strickwaren, die Anna Freud für ihre Freundin anfertigte: Im «Häkeln und Stricken zu Andreas-Salomé hin» entstünde Nähe und Verbundenheit, gleichzeitig verweise der Herstellungsprozess darauf, dass Beziehung immer hervorgebracht werde (S. 191).

Anna Leyrer gelingt es, «die Freundin» Lou Andreas-Salomé und damit Freundschaft fernab der «grossen Männer» und einer androzentrischen Logik zu denken. Sie betont das Potential von Freundschaft als Differenzbeziehung entgegen der «Gleichheitsobsession der Moderne» (S. 213) und zeichnet ein Bild von Andreas-Salomé als Feministin, die nicht auf Gleichheit und Anerkennung, sondern Differenz abzielte, woraus sich «viel kühnere und radikalere Utopien» (S. 214) ableiten liessen. Die Interpretation, die historischen Akteurinnen hätten mit ihrer Betonung von spezifisch weiblicher Kultur und Bezogenheit Beziehungen und damit wohl auch Gesellschaftsentwürfe jenseits patriarchaler Normen entworfen, erweist sich durchaus als inspirierend. Um deren transformatives Potenzial einschätzen zu können, wäre an verschiedenen Stellen eine ausführlichere Kontextualisierung der Protagonistinnen wünschenswert, insbesondere, wenn es um koloniale Verstrickungen oder Nähe zu faschistischen Ideen geht, wie es Hanna Hacker in einer früheren Rezension angemerkt hat.1 Die Lektüre erweist sich weiter, vielleicht bedingt durch das «wilde in Bezug-Setzen», bisweilen als herausfordernd, immer aber sehr anregend. Die Autorin beeindruckt mit fundiertem theoretischem Wissen und originellen methodischen Zugängen, welche die disziplinären Grenzen zu sprengen vermögen.

Anmerkungen
1 Hanna Hacker, Rezension zu: Leyrer, Anna: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900, in: H-Soz-Kult, 10. 06. 2022, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97545 (5.8.22).

Zitierweise:
Probst, Sarah: Rezension zu: Leyrer, Anna: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900, Göttingen 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 464-466. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.