Archiv für Agrargeschichte (Hrsg.): Eigensinnig vernetzt

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Title
Eigensinnig vernetzt. Spuren sichern und Quellen erschließen in der neueren Agrargeschichte


Editor(s)
Archiv für Agrargeschichte (AfA)
Published
Zürich 2022: Chronos Verlag
Extent
318 S.
Price
€ 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Der Titel des hier angezeigten Sammelbandes ist Programm: In ihm geht es sowohl darum, agrarischen Wandel im Zuge wachsend komplexer (und europäisierter) Forschungsparadigmen zu erforschen als auch dessen Spuren zu dokumentieren. Die Aufgabe, oft schwer zugängliche Quellen der neueren Agrargeschichte zu sichern, ist ein Kern des von Peter Moser begründeten „Archivs für Agrargeschichte“ (AfA). Das in Bern situierte Archiv sammelt einschlägige Quellen und publizistische Bestände, es macht viele weitere Sammlungen virtuell recherchierbar, auch zu zahlreichen Personen, und möchte zur wissenschaftlichen Agrargeschichtsschreibung nicht nur beitragen, sondern dieser neue Horizonte eröffnen.1

Zunächst weist der Band die vielfältigen Aktivitäten des Archivs in den vergangenen zwanzig Jahren nach. Er führt 15 Beiträge von Mitarbeitenden des AfA zusammen, die – mit einer Ausnahme – alle bereits zuvor publiziert worden sind, um so die methodische und inhaltliche Entwicklung der im AfA geleisteten Forschung abzubilden. Ferner enthält der Band 15 Stellungnahmen von fachlich einschlägigen Autorinnen und Autoren zur Frage, in welchem Zusammenhang sie dem AfA begegnet und wie dessen Angebote in die jeweils eigene Forschung eingegangen sind. Inhaltlich wird ein Forschungsprogramm abgesteckt, das zentral auf die Rolle der Landwirtschaft in der Moderne und auf kulturelle und ökologische Aspekte sowie die Wissensbestände agrarischen Wandels fokussiert ist.

In den längeren Forschungsbeiträgen erweist sich in einem ersten Teil zunächst, wie im AfA ein zeitgemäßer Begriff von „Archiv“ gepflegt und vorangetrieben wird. Mit deutlichem Selbstbewusstsein und „Eigensinn“ stand an seinem Anfang im Jahr 2002 der Anspruch, ein „Zentrum der Quellenerschließung und Geschichtsschreibung zur ländlichen Gesellschaft“ (des 19./20. Jahrhunderts) zu werden. Weitere Artikel unter der Überschrift „Geschichte, Praxis und historiografische Verortungen“ widmen sich der Fortentwicklung des Berner Archivkonzepts und des seither eingeschlagenen Weges. Auf diesem erhalten internationale Kooperationen, nicht zuletzt auch diejenige mit dem österreichischen „Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes“ (IGLR), ein hohes Gewicht.

Der erste Themenschwerpunkt des zweiten Teils ist die „Vergesellschaftung der bäuerlichen Landwirtschaft in der Industriegesellschaft“. Die Leitidee ist hier, wie Peter Moser und Tony Varley pointiert formulieren, deren „Integration durch Subordination“.2 Die agrarische Transitionsgeschichte – trotz deren Langfristigkeit wird der Begriff der agricultural revolution verwendet – wird in drei Phasen unterteilt: Die erste, wie es im englischsprachigen Beitrag heißt, dauerte von 1750 bis 1850, in der die agrarische Produktion noch geprägt war durch die „limits set by the use of biotic resources“ (S. 124). Die zweite, von 1850 bis 1950 dauernd, war charakterisiert durch enorme Produktivierungserfolge, die wiederum nicht ohne gezielten agrarpolitischen Protektionismus und die Interventionen von pressure groups im staatlichen Rahmen zustande kamen. Wie man aus anderen Forschungsarbeiten weiß, ging diese Phase einher mit einem Schwund mittlerer und kleinerer bäuerlicher Existenzen. Eine dritte Phase der subordinierenden Integration bestand dieser Periodisierung zufolge in einem „partially successful attempt to industrialise agricultural production“ (S. 131). Die Autoren verdeutlichen, dass eine solche Einverleibung der Agrikultur in die industrielle Wirtschaft samt deren Wissensregimen nur aufgrund grundlegend geänderter Rahmenbedingungen möglich war. Entscheidende externe Faktoren waren die gezielte, massiv eingreifende Agrarpolitik der EU und der Zugriff auf neue, ungeheuer erweiterte Energieressourcen.3

In einem zweiten, sehr stark gemachten Schwerpunktkapitel werden die Modernisierung agrarischen Wissens und die „Ressourcengeschichte“ als Forschungsgegenstände identifiziert. Auch hier wird das Bestreben sichtbar, systematisch und theorieorientiert zu analysieren. So geht die Darstellung von den besonderen Konstellationen moderner Agrarwirtschaft aus, nämlich des Zusammenhangs von verstärktem Energieeinsatz und der sich letztlich daraus ergebenden Rolle von Tieren und Motoren. Ferner sei für das Agrarische gegenüber klassischen Industriezweigen die Diversität der Arbeitsaufgaben in der landwirtschaftlichen Sphäre charakteristisch, ebenso wie „the patchy temporal and spatial structures of agricultural work“ (S. 191). Bemerkenswert ist in diesem Kapitel auch ein Beitrag von Jury Auderset und Hans-Ulrich Schiedt über die jahrhundertelang unentbehrlichen Arbeitstiere. Ihr Beitrag wird durch das Motto eingeleitet: „Über die Unsichtbarkeit der Arbeitstiere und die Dringlichkeit ihrer historischen Sichtbarmachung“ (S. 223). Diesem Plädoyer kommt das AfA übrigens selbst nach, indem es den ersten Videoessay einer 2022 neu lancierten Reihe zur Verbreitung von agrarhistorischem Wissen den „Arbeitenden Tieren“ widmet.4 Es trifft sich mit dem Grundanliegen des AfA, nicht nur Bestände zu sammeln und zu erforschen, sondern dem breiten Publikum weitgehend vergessene Komplexe agrarischen Wirtschaftens sichtbar zu machen. Freilich, möchte man anfügen, wären hierbei dörfliche Kontexte solchen Wirtschaftens sowie Dörflichkeit als Lebensform und Projektionsfläche ebenfalls zu verdeutlichen.5

Schließlich das dritte Kapitel über „die bäuerliche Bevölkerung im Konfliktfeld moderner Industriegesellschaften“: Es geht hier zunächst um den Aufbau von Produktionsgenossenschaften (in Irland) mit extremen Konflikten zwischen ländlichen Aktivisten und staatlichen Vertretern. An diesem Beispiel zeigen sich Querverbindungen zwischen konsumpolitischen, agrarischen und frauenpolitischen Bewegungen. Vor allem erweist sich hier die Relevanz von Widerstand. Die Integration von Bäuerinnen und Bauern in die herrschenden Regeln der Industriegesellschaft und einer verwaltenden Agrarpolitik verlief keineswegs einfach. Schlagendes Beispiel sind das Verhalten und die Deutungsmuster der schweizerischen bäuerlichen Bevölkerung im geschichtlich herausragenden, die politische Kultur der Zwischenkriegszeit prägenden Landesstreik von 1918. Dieser führte zu Lernprozessen auf verschiedenen politischen Seiten. Die organisierte Arbeiterschaft erreichte ein neues Maß an Partizipation, bei der bäuerlichen Bevölkerung entstand ansatzweise ein Bewusstsein für die Notwendigkeit kooperativer Formen in der Ernährungs- und Agrarpolitik (S. 258). Krasse Frontstellungen zwischen Bauern- und Arbeiterschaft milderten sich ab und wichen einer Neuthematisierung der Ernährungsfrage.

Die eingangs erwähnten 15 kürzeren Stellungnahmen externer Forscherinnen und Archivare sind in die jeweiligen Hauptkapitel eingeordnet und erweisen sich als vielfach spannend und anregend. Sie enthalten Zusatzinformationen aus anderen nationalen und regionalen Kontexten, auch gehen sie auf den medialen Aspekt historischer Agrarforschung ein.6

Es soll zuletzt noch einmal unterstrichen werden, dass das AfA Quellenbestände nicht nur zusammenführt, sondern über das (inzwischen europäisierte) Portal leicht zugänglich gemacht hat, insbesondere agrarische Lehrfilme, die angewandte Technologien bewerben und Veränderungen im Bildungswesen dokumentieren. Alles in allem stellt der Band ein „Muss“ dar sowohl für die Erweiterung von Bibliotheksbeständen in der Agrargeschichte als auch für solche in der Archivwissenschaft und für digitale Initiativen der Sichtung und Sicherung von Erinnerungsbeständen. Er zeigt zugleich, was außerhalb der ganz großen Forschungsinstitutionen auf kooperativem Wege geleistet werden kann, wenngleich auch hier nicht ohne öffentliche finanzielle Unterstützung.

Anmerkungen:
1 Siehe: https://www.histoirerurale.ch/afa/index.php (03.01.2023).
2 Die Formulierung geht auf einen früheren Band zurück: Peter Moser / Tony Verley (Hrsg.), Integration through subordination. The politics of agricultural modernisation in industrial Europe, Turnhout 2013.
3 Es soll an dieser Stelle auf eine bei Moser und Verley nicht erwähnte Forschungsarbeit aufmerksam gemacht werden, in der sowohl analoge strukturverändernde Prozesse nachvollzogen als auch spezifisch deutsche agrar- und landpolitische Verhältnisse behandelt werden: Gunter Mahlerwein, Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 3: Die Moderne (1880–2010), Köln 2016.
4 Peter Moser / Andreas Wigger, Arbeitende Tiere. Akteure der Modernisierung sichtbar machen, ARH/ERHFFA Video Essay No. 1, 2022. Siehe: https://ruralfilms.eu/ruralfilms/video-essays/working-animals/ (05.01.2023).
5 Es sei hier auf Heft 2/2022 der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie hingewiesen, das sich fiktionalen Dorfserien von der „Heimat“ bis zu „Un Village français“ widmet: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 70/2 (2022), hrsg. von Gunter Mahlerwein / Clemens Zimmermann, Themenschwerpunkt: Das Dorf in Fernsehserien.
6 Debra A. Reid, Agriculture in Films and the Potential of Institutional Cooperation in Rural History, in: R. Douglas Hurt (Hrsg.), A Companion to American Agricultural History, Hoboken 2022, S. 436–452, hier S. 67–69. Reid weist auf die Vorbildwirkung des AfA für weitere Medieninitiativen und das belgische „Center for Agricultural History“ in Leuven hin. Dort entstand die gemeinsame Cinema Rural Film Database: https://ruralfilms.eu/Ruralfilms. Die Recherche zu Filmen ist sowohl auf dieser wie auf der AfA-Website (siehe Anm. 1) möglich.

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Published on
06.02.2023
Edited by
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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