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Die ab 1900 rasch zunehmende Zahl von Scheidungen? Prekäre finanzielle Lagen oder die Zerrüttung von Familienbanden? Emanzipierte Frauen, die ihnen zugeschriebene Rollenmuster ablehnen und deren Grenzen ausloten? Familie in der untersuchten longue durée von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet nach Eibach „stilvolle Inszenierung“ auf der einen und „alltägliches Durcheinander“ auf der anderen Seite (S. 1). Eibach selbst will „hinter die Fassade auf das Durcheinander des häuslichen Alltags schauen“ und so das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie untersuchen (S. 4). Sein Fokus liegt auf Ehe und häuslicher Lebenswelt, aber auch auf sogenannten „Randzonen“ im Lebenslauf, wie der Wanderzeit eines jungen Handwerksgesellen (S. 125). Für seine Untersuchung hat Eibach acht Fallbeispiele gewählt, denen er jeweils ein gesondertes Kapitel widmet. Die Schreibenden (männlich, weiblich) umfassen zeitlich eine Bandbreite aus verschiedenen Jahrzehnten (der älteste Protagonist ist Jahrgang 1736, die Jüngste 1876) und geografisch Deutschland, Schweiz und Österreich. Wichtig ist zu bemerken, dass es hier nicht nur um Akteure aus dem Bürgertum geht (Pfarrfamilie, Künstlerpaar, Beamtenpaar, Advokatenfamilie), sondern auch um Handwerker, Kleinunternehmer, eine Arbeiterin. Dabei sind die Klassenzugehörigkeiten oft uneindeutig: Der Handwerker ist ein Lehrersohn (Kapitel 7), die Arbeiterin wird zur Journalistin (Kapitel 9). Mit „bürgerlich“ ist hier nicht unbedingt das Subjekt gemeint, sondern die Epoche. Einige der untersuchten Akteure sind berühmte Persönlichkeiten (Paula Modersohn und Otto Becker, Adelheid Popp, Ulrich Bräker), manche sind zumindest in der Forschung wohlbekannt (Ferdinand Beneke, Barbara Baumgartner, Ursula Bruckner), wieder andere dürften erst in Zukunft mehr Aufmerksamkeit erlangen (Henriette Stettler, Friedrich Püschmann). Im Fokus steht meist ein Subjekt, aber auch dessen Partner oder Partnerin, Eltern, Geschwister oder Freunde. An einer Stelle sorgen Kapitelüberschrift und -aufbau für Verwirrung: Im 9. Kapitel wird nicht das Familienleben Friedrich Engels untersucht, sondern das Adelheid Popps – Engels Schrift über die proletarischen Verhältnisse dient lediglich als Einleitung. Eibachs Quellen sind Selbstzeugnisse: Tagebücher, Briefe und Memoiren. Er weist jeweils auf die Spezifika des Mediums und dessen individuelle Aneignung hin, somit ist sein Beitrag auch für die Forschung mit Ego-Dokumenten anschlussfähig. Zunächst stellt Eibach jeden Fall umfänglich vor. Hierzu nutzt er die Ergebnisse der jeweiligen Editoren, die er an manchen Stellen ergänzt. Eibachs methodischer Ansatz ist mikrohistorisch und praxeologisch: anhand der Selbstzeugnisaussagen untersucht er „die Art und Weise, wie Familie und Häuslichkeit gedacht und gelebt“ (S. 13) und beschrieben wurden. Die Studie fokussiert Lebensverlauf-chronologisch auf Themen wie Herkunftsfamilie und Ausbildung; Eheanbahnung; Ehe- und Familienleben – und exerziert diese für jeden Einzelfall durch, allerdings nicht pedantisch, sondern je nach Quellenlage mit unterschiedlichem Fokus. Mit seinem mikrogeschichtlichen Ansatz kann Eibach an vielen Stellen die bisherige Forschung um wichtige Nuancen ergänzen. Genannt seien hier nur einige Beispiele: Der Fall des Bauernsohnes Bräker soll zeigen, dass bereits vor der bislang angenommenen Zäsur um 1800 die Liebesehe als Eheideal sogar in den unteren Schichten angekommen war (S. 35). Am Fall Püschmann soll man erkennen, dass auch Handwerker einen bemerkenswerten Bildungshunger hatten (S. 129) und ihre Beziehung zu wechselnden Wohnorten durchaus vergleichbar war mit dem Verständnis der „domestic sphere“ bürgerlicher Familien (S. 131). In Bereich der Häuslichkeit liegt denn auch Eibachs zentrale Erkenntnis: Eibach sucht in allen Fallbeispielen nach Charakteristika des Ganzen Hauses oder der modernen Kernfamilie und findet Hinweise auf etwas dazwischen. Der Autor plädiert dafür, die manchmal langweilig anmutenden Aufzählungen von Treffen und Kontakten in Ego-Dokumenten nicht zu übergehen, denn sie zeugen von einer Kultur des „offenen Haus[es]“, was im „krassen Widerspruch zu eingeschliffenen Vorstellungen vom 19. Jahrhundert als dem ‚goldenen Zeitalter des Privaten‘“ stünde (S. 101). Die Akteure verfügten über eine Vielzahl sozialer Kontakte, sei es zu Verwandten oder mit Domestiken, und pflegten eine rege Besuchskultur. Wo die Kontakte zu Nachbarn weniger ausgeprägt waren, gab es „elektive Familien“ (S. 224) oder enge Verbindungen zur Herkunftsfamilie. Frauen findet Eibach weniger an Küche und Kinderzimmer gebunden, sondern als in der Beziehungspflege im und außerhalb des Hauses tätig. So plädiert er dafür diese „Repräsentationsarbeit“ neben Erwerbs- und Sorgearbeit, Subsistenzsicherung und Haushaltsarbeit als Arbeit anzuerkennen (S. 66). Die Wirkungssphären der Ehepartner findet Eibach eher durchlässig und räumlich nah beieinander und verortet also zwischen dem Ganzen Haus der Frühen Neuzeit und der Kernfamilie nach 1945 eine „Ära der offenen Häuslichkeit“ (S. 257). Worin nun ist aber die „Fragilität“ der Familie zu erkennen? Bereits in der Überschrift zum einleitenden Kapitel wurde den titelgebenden „Fragile Familien“ ein Fragezeichen zugesetzt. In den Fallbeispielen taucht die anfangs sehr lose definierte Kategorie (S. 3) kaum explizit auf. Manchmal wirken Bezüge zur Fragilität wie rückwirkend eingeschoben (S. 20: „Liebe wie Moral ist fragil.“) oder platt (S. 246: „Freundschaft teilt mit Liebe den Aspekt der Fragilität.“). Dabei hat Eibach durchaus recht: Jeder vorgestellte Einzelfall/Akteur zeigte sich auf seine Art verwundbar oder fragil. Ulrich Bräker war in seiner Vernunftehe unglücklich und verließ seine Frau zeitweise. Henriette Stettler war von ihren religiös motivierten Selbstansprüchen überfordert, sodass Eibach eine „fragile Körper- und schwankende Gemütsverfassung“ diagnostizierte (S. 48): Die Beziehungen innerhalb der Familie Stettler seien „überaus fragil“ gewesen, das „harmonische Ideal“ war kaum zu erreichen (S. 65). Bei Benekes befindet Eibach die eheliche Liebe aufgrund einer (möglicherweise platonischen) Affäre als „verletzlich“ (S. 95), da die Liebe eben eine „fragile Emotion“ ist (S. 98). Bei Ursula Bruckner wiederum bezeichnet Eibach die Beziehungen zwischen Mutter und Kindern als „herausragend wichtig, sehr gefühlig und damit auch fragil“ (S. 116), denn Bruckner beschrieb in ihrem Tagebuch manchen Streit, ebenso wie eine überhöhte Anspruchshaltung an sich selbst als Erziehende. Auch Barbara Baumgartner schrieb über Lebens- und Ehekrisen, deren Auswirkungen zu Unwohlsein führten, was Eibach als „psychosomatisch“ diagnostiziert (S. 153)[1]. Paula Modersohn indes wollte sich vom Ehemann trennen. Eibach findet dank präziser Analyse der vorliegenden Vielzahl an Ego-Dokumenten zu diesem Fallbeispiel spannende Trennungsgründe (S. 232) und konstatiert bei Paula Modersohn einen neuen, emanzipierten und individualisierten Blick auf die Ehe. Diese wachsende Individualität, so Eibach, sei ein weiterer Beweis der „Fragilität“ (S. 238). Doch nicht nur die Ehe der Modersohns, auch das Künstlerdorf Worpswede „erwies sich als extrem fragil“ (S. 226), da es sich um eine „auf freundschaftlichen Emotionen und kongenialem Kunstsinn basierende elektive Familie“ handelte. Neben der bemerkten „Fragilität“, die Eibach also vor allem überhöhten Emotionen zuschreibt, welche die Ehe und weitere Beziehungen gefährden sollten, findet er in fast allen Beispielen auch Belastbarkeit. So steht über dem Schlusskapitel auch wieder ein Fragezeichen und Eibach fragt nach dem „Verfall oder Resilienz der Familie?“ (S. 239), wobei er zu letzterem tendiert (S. 240–241). So konnte die „Emotions- und Unterstützungsgemeinschaft“ der Herkunftsfamilie (S. 146) Abwesenheiten aushalten lassen und auch Ehekrisen abfedern (S. 121, S. 169); „kleine Rituale“ und Auszeiten konnten Ehen „stabilisieren“ (S. 251). Warum Eibach gerade Baumgartners, deren Ehe und Häuslichkeit einem Desaster ähnelten, als „modernes Paar“ bezeichnet (S. 175), ist nicht nachvollziehbar. Dieses Paar setzte bei der Eheschließung eben nicht nur auf Liebe, sondern auch auf gemeinschaftliche Existenzsicherung. Keines der vorgestellten Paare trennte sich dauerhaft, auch Baumgartners nicht – auch dies ein Zeichen von Resilienz? Weitere Fälle hätten möglicherweise zusätzliche Aspekte erkennen lassen, doch nicht die Grundtendenzen verschoben. Im Resümee betont Eibach noch einmal seine wichtigsten Erkenntnisse, die alle um das Thema Häuslichkeit kreisen. Ob die Zeit von 1750 bis 1907 als eigenständige „Epoche der Familiengeschichte“ (S. 257) betrachtet werden wird, ist fraglich, denn jeder Forschende stellt eigene Epochengrenzansprüche auf[2]. Doch Eibachs These der „offenen Häuslichkeit“ (S. 257), die auf das Ganze Haus folgte und vor der modernen Kernfamilie steht, wird sicherlich überdauern. Anmerkungen: [1] Eibachs Thesen zu Henriette Stettlers und Barbara Baumgartners Gesundheitszustand sind sehr plakativ. Siehe: Matthis Krischel, Potentiale und Kritik an der retrospektiven Diagnose in der Medizingeschichte, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 27/2 2019, S. 193-199; Angelika Ebrecht, Weiblichkeit als kulturelle Pathologie. Kulturkritik, Nervosität und Geschlecht in Theorien der Jahrhundertwende, in: Feministische Studien 14 1996, S. 110–121. [2] So zum Beispiel der nicht rezipierte Christopher Neumaier, der den Zäsurcharakter der 1960er und 1970er in der Familiengeschichte ablehnt und den Beginn der modernen Familie bereits im Kaiserreich suchte, also durchaus mit Eibachs Untersuchungszeitraum überlappte: Christopher Neumaier, Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019." 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Den Auftakt machen der „arme Mann aus dem Toggenburg“ Ulrich Bräker und seine Salome Ambühl, eine legendäre Beziehungsgeschichte, die hier in neuem Licht erscheint. Dann geht es zu einer pietistischen Frau aus dem Berner Patriziat, zu einem bürgerlichen Ehepaar mit „offener Häuslichkeit“ in Hamburg, zu einem „labyrinthischen“ Basler Pfarrhaus, usw. Den Schluss machen Paula Becker und Otto Modersohn, ein bekanntes Malerehepaar in der Künstlerkolonie Worpswede, einem Dorf vor den Toren Bremens. Gerahmt sind die Fallgeschichten von einem Kapitel zu Forschung und Quellen sowie von einem Fazit mit der Frage: „Verfall oder Resilienz der Familie?“ Das Buch stützt sich auf Selbstzeugnisse, vor allem Tagebücher, teilweise auch Briefe und Autobiografien. Der Autor hat viel zu sagen über diese ergiebige und komplexe Quellengattung: „Der Reiz von Tagebüchern für eine Geschichte der Familie besteht gerade darin, dass sich der Inhalt nicht völlig aus Kontexten und Schreibkonventionen erschliesst. Vielmehr gibt es bei der Lektüre immer wieder Zufallsfunde und Überraschungseffekte, und gerade das nebensächlich Bemerkte kann wichtig sein. Denn manchmal überlisten die Optionen, die das Medium Tagebuch bietet, die eigentliche Intention der Autorin.“ (S. 18). Eine erstaunliche Quelle ist etwa das von 1771 bis 1789 geführte Journal de mes actions von Henriette Stettler-Herport, einer Patrizierin, die zuerst mit ihrem Mann auf einer Berner Landvogtei residierte und nachher ihren Wohnsitz in der Hauptstadt bezog. Es handelt sich um ein pietistisches Seelenprotokoll. Durch regelmässiges Registrieren ihrer Verfehlungen legte Henriette Stettler-Herport eine fortlaufende Beichte vor Gott ab und wollte so zur Spiritualisierung des Alltags und zur religiösen Perfektionierung ihrer Persönlichkeit gelangen. Sowohl der Alltag wie die Persönlichkeit waren in der Regel korrekturbedürftig. 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Filmreif sind die Szenen, in denen der aufstrebende dreissigjährige Anwalt die sechzehnjährige Caroline von Axen zur Ehefrau gewann – nach etlichem Hin und Her. Dabei zeigt sich, wie bedeutend die Rolle der Brauteltern und besonders der Brautmutter bei der Eheanbahnung war. Grundsätzlich erwarteteten sie vom Schwiegersohn in spe, dass er ihre Tochter und die künftigen Kinder standesgemäss ernähren konnte. Die Annäherung der beiden Verliebten erfolgte „enorm körperlos“, wie Eibach konstatiert. Die wesentlich jüngere Frau trat dabei durchaus selbstbewusst auf. So notierte Beneke kurz vor der Verlobung: „‚Ich reichte ihr beym Weggehen die Hand. Neckend hielt ich sie eine Weile.‘ Sie: ‚Was soll das?‘ Er: ‚Drücken Sie mir doch die Hand einmal, Karoline!‘ Sie: ‚Nimmermehr‘. Er: ‚Wie? ihrem Freunde kein HändeDruck?‘ Sie: ‚Wenn einmal ihr GeburtsTag ist.‘“ (S. 88) Das Buch ist also sehr lebensnah. Aber gleichzeitig ist es mindestens in zweifacher Hinsicht auch anspruchsvoll und ambitioniert. 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Auch wenn Eibach bestimmten Auswahlkriterien folgt (deutschsprachiger Raum, Blick über das Bürgertum hinaus, dichte Quellenlage), können die Fallbeispiele nicht anders als höchst zufällig sein. Hier kommt jedoch der Umstand ins Spiel, dass es wenige Historiker gibt, die für eine solche Aufgabe so gut positioniert sind wie Eibach. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit dem Thema und hat mit Einzelarbeiten und von ihm geleiteten Kollektivunternehmen die Forschung stark angeregt. Wenn er die Mikrostudien historisch einordnet und nach Indizien von Kontinuität oder Wandel abfragt, so auf einem reichen Erfahrungshintergrund. 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Eibach: Fragile Familien | infoclio - Rezensionen
Cover
Titel
Fragile Familien. Ehe und häusliche Lebenswelt in der bürgerlichen Moderne


Autor(en)
Eibach, Joachim
Erschienen
Berlin 2022: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Katerina Piro, Wirtschaftsgeschichte, Universität Mannheim

„Fragile Familien“ – der Begriff ist interessant; man möchte sofort wissen, was Joachim Eibach mit der „fragilen“ Familie im bürgerlichen Zeitalter meint. Die ab 1900 rasch zunehmende Zahl von Scheidungen? Prekäre finanzielle Lagen oder die Zerrüttung von Familienbanden? Emanzipierte Frauen, die ihnen zugeschriebene Rollenmuster ablehnen und deren Grenzen ausloten?

Familie in der untersuchten longue durée von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet nach Eibach „stilvolle Inszenierung“ auf der einen und „alltägliches Durcheinander“ auf der anderen Seite (S. 1). Eibach selbst will „hinter die Fassade auf das Durcheinander des häuslichen Alltags schauen“ und so das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie untersuchen (S. 4). Sein Fokus liegt auf Ehe und häuslicher Lebenswelt, aber auch auf sogenannten „Randzonen“ im Lebenslauf, wie der Wanderzeit eines jungen Handwerksgesellen (S. 125).

Für seine Untersuchung hat Eibach acht Fallbeispiele gewählt, denen er jeweils ein gesondertes Kapitel widmet. Die Schreibenden (männlich, weiblich) umfassen zeitlich eine Bandbreite aus verschiedenen Jahrzehnten (der älteste Protagonist ist Jahrgang 1736, die Jüngste 1876) und geografisch Deutschland, Schweiz und Österreich. Wichtig ist zu bemerken, dass es hier nicht nur um Akteure aus dem Bürgertum geht (Pfarrfamilie, Künstlerpaar, Beamtenpaar, Advokatenfamilie), sondern auch um Handwerker, Kleinunternehmer, eine Arbeiterin. Dabei sind die Klassenzugehörigkeiten oft uneindeutig: Der Handwerker ist ein Lehrersohn (Kapitel 7), die Arbeiterin wird zur Journalistin (Kapitel 9). Mit „bürgerlich“ ist hier nicht unbedingt das Subjekt gemeint, sondern die Epoche.

Einige der untersuchten Akteure sind berühmte Persönlichkeiten (Paula Modersohn und Otto Becker, Adelheid Popp, Ulrich Bräker), manche sind zumindest in der Forschung wohlbekannt (Ferdinand Beneke, Barbara Baumgartner, Ursula Bruckner), wieder andere dürften erst in Zukunft mehr Aufmerksamkeit erlangen (Henriette Stettler, Friedrich Püschmann). Im Fokus steht meist ein Subjekt, aber auch dessen Partner oder Partnerin, Eltern, Geschwister oder Freunde. An einer Stelle sorgen Kapitelüberschrift und -aufbau für Verwirrung: Im 9. Kapitel wird nicht das Familienleben Friedrich Engels untersucht, sondern das Adelheid Popps – Engels Schrift über die proletarischen Verhältnisse dient lediglich als Einleitung.

Eibachs Quellen sind Selbstzeugnisse: Tagebücher, Briefe und Memoiren. Er weist jeweils auf die Spezifika des Mediums und dessen individuelle Aneignung hin, somit ist sein Beitrag auch für die Forschung mit Ego-Dokumenten anschlussfähig. Zunächst stellt Eibach jeden Fall umfänglich vor. Hierzu nutzt er die Ergebnisse der jeweiligen Editoren, die er an manchen Stellen ergänzt. Eibachs methodischer Ansatz ist mikrohistorisch und praxeologisch: anhand der Selbstzeugnisaussagen untersucht er „die Art und Weise, wie Familie und Häuslichkeit gedacht und gelebt“ (S. 13) und beschrieben wurden. Die Studie fokussiert Lebensverlauf-chronologisch auf Themen wie Herkunftsfamilie und Ausbildung; Eheanbahnung; Ehe- und Familienleben – und exerziert diese für jeden Einzelfall durch, allerdings nicht pedantisch, sondern je nach Quellenlage mit unterschiedlichem Fokus.

Mit seinem mikrogeschichtlichen Ansatz kann Eibach an vielen Stellen die bisherige Forschung um wichtige Nuancen ergänzen. Genannt seien hier nur einige Beispiele: Der Fall des Bauernsohnes Bräker soll zeigen, dass bereits vor der bislang angenommenen Zäsur um 1800 die Liebesehe als Eheideal sogar in den unteren Schichten angekommen war (S. 35). Am Fall Püschmann soll man erkennen, dass auch Handwerker einen bemerkenswerten Bildungshunger hatten (S. 129) und ihre Beziehung zu wechselnden Wohnorten durchaus vergleichbar war mit dem Verständnis der „domestic sphere“ bürgerlicher Familien (S. 131). In Bereich der Häuslichkeit liegt denn auch Eibachs zentrale Erkenntnis:

Eibach sucht in allen Fallbeispielen nach Charakteristika des Ganzen Hauses oder der modernen Kernfamilie und findet Hinweise auf etwas dazwischen. Der Autor plädiert dafür, die manchmal langweilig anmutenden Aufzählungen von Treffen und Kontakten in Ego-Dokumenten nicht zu übergehen, denn sie zeugen von einer Kultur des „offenen Haus[es]“, was im „krassen Widerspruch zu eingeschliffenen Vorstellungen vom 19. Jahrhundert als dem ‚goldenen Zeitalter des Privaten‘“ stünde (S. 101). Die Akteure verfügten über eine Vielzahl sozialer Kontakte, sei es zu Verwandten oder mit Domestiken, und pflegten eine rege Besuchskultur. Wo die Kontakte zu Nachbarn weniger ausgeprägt waren, gab es „elektive Familien“ (S. 224) oder enge Verbindungen zur Herkunftsfamilie. Frauen findet Eibach weniger an Küche und Kinderzimmer gebunden, sondern als in der Beziehungspflege im und außerhalb des Hauses tätig. So plädiert er dafür diese „Repräsentationsarbeit“ neben Erwerbs- und Sorgearbeit, Subsistenzsicherung und Haushaltsarbeit als Arbeit anzuerkennen (S. 66). Die Wirkungssphären der Ehepartner findet Eibach eher durchlässig und räumlich nah beieinander und verortet also zwischen dem Ganzen Haus der Frühen Neuzeit und der Kernfamilie nach 1945 eine „Ära der offenen Häuslichkeit“ (S. 257).

Worin nun ist aber die „Fragilität“ der Familie zu erkennen? Bereits in der Überschrift zum einleitenden Kapitel wurde den titelgebenden „Fragile Familien“ ein Fragezeichen zugesetzt. In den Fallbeispielen taucht die anfangs sehr lose definierte Kategorie (S. 3) kaum explizit auf. Manchmal wirken Bezüge zur Fragilität wie rückwirkend eingeschoben (S. 20: „Liebe wie Moral ist fragil.“) oder platt (S. 246: „Freundschaft teilt mit Liebe den Aspekt der Fragilität.“). Dabei hat Eibach durchaus recht: Jeder vorgestellte Einzelfall/Akteur zeigte sich auf seine Art verwundbar oder fragil. Ulrich Bräker war in seiner Vernunftehe unglücklich und verließ seine Frau zeitweise. Henriette Stettler war von ihren religiös motivierten Selbstansprüchen überfordert, sodass Eibach eine „fragile Körper- und schwankende Gemütsverfassung“ diagnostizierte (S. 48): Die Beziehungen innerhalb der Familie Stettler seien „überaus fragil“ gewesen, das „harmonische Ideal“ war kaum zu erreichen (S. 65). Bei Benekes befindet Eibach die eheliche Liebe aufgrund einer (möglicherweise platonischen) Affäre als „verletzlich“ (S. 95), da die Liebe eben eine „fragile Emotion“ ist (S. 98). Bei Ursula Bruckner wiederum bezeichnet Eibach die Beziehungen zwischen Mutter und Kindern als „herausragend wichtig, sehr gefühlig und damit auch fragil“ (S. 116), denn Bruckner beschrieb in ihrem Tagebuch manchen Streit, ebenso wie eine überhöhte Anspruchshaltung an sich selbst als Erziehende. Auch Barbara Baumgartner schrieb über Lebens- und Ehekrisen, deren Auswirkungen zu Unwohlsein führten, was Eibach als „psychosomatisch“ diagnostiziert (S. 153)1. Paula Modersohn indes wollte sich vom Ehemann trennen. Eibach findet dank präziser Analyse der vorliegenden Vielzahl an Ego-Dokumenten zu diesem Fallbeispiel spannende Trennungsgründe (S. 232) und konstatiert bei Paula Modersohn einen neuen, emanzipierten und individualisierten Blick auf die Ehe. Diese wachsende Individualität, so Eibach, sei ein weiterer Beweis der „Fragilität“ (S. 238). Doch nicht nur die Ehe der Modersohns, auch das Künstlerdorf Worpswede „erwies sich als extrem fragil“ (S. 226), da es sich um eine „auf freundschaftlichen Emotionen und kongenialem Kunstsinn basierende elektive Familie“ handelte.

Neben der bemerkten „Fragilität“, die Eibach also vor allem überhöhten Emotionen zuschreibt, welche die Ehe und weitere Beziehungen gefährden sollten, findet er in fast allen Beispielen auch Belastbarkeit. So steht über dem Schlusskapitel auch wieder ein Fragezeichen und Eibach fragt nach dem „Verfall oder Resilienz der Familie?“ (S. 239), wobei er zu letzterem tendiert (S. 240–241). So konnte die „Emotions- und Unterstützungsgemeinschaft“ der Herkunftsfamilie (S. 146) Abwesenheiten aushalten lassen und auch Ehekrisen abfedern (S. 121, S. 169); „kleine Rituale“ und Auszeiten konnten Ehen „stabilisieren“ (S. 251). Warum Eibach gerade Baumgartners, deren Ehe und Häuslichkeit einem Desaster ähnelten, als „modernes Paar“ bezeichnet (S. 175), ist nicht nachvollziehbar. Dieses Paar setzte bei der Eheschließung eben nicht nur auf Liebe, sondern auch auf gemeinschaftliche Existenzsicherung.

Keines der vorgestellten Paare trennte sich dauerhaft, auch Baumgartners nicht – auch dies ein Zeichen von Resilienz? Weitere Fälle hätten möglicherweise zusätzliche Aspekte erkennen lassen, doch nicht die Grundtendenzen verschoben. Im Resümee betont Eibach noch einmal seine wichtigsten Erkenntnisse, die alle um das Thema Häuslichkeit kreisen. Ob die Zeit von 1750 bis 1907 als eigenständige „Epoche der Familiengeschichte“ (S. 257) betrachtet werden wird, ist fraglich, denn jeder Forschende stellt eigene Epochengrenzansprüche auf2. Doch Eibachs These der „offenen Häuslichkeit“ (S. 257), die auf das Ganze Haus folgte und vor der modernen Kernfamilie steht, wird sicherlich überdauern.

Anmerkungen:
1 Eibachs Thesen zu Henriette Stettlers und Barbara Baumgartners Gesundheitszustand sind sehr plakativ. Siehe: Matthis Krischel, Potentiale und Kritik an der retrospektiven Diagnose in der Medizingeschichte, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 27/2 2019, S. 193-199; Angelika Ebrecht, Weiblichkeit als kulturelle Pathologie. Kulturkritik, Nervosität und Geschlecht in Theorien der Jahrhundertwende, in: Feministische Studien 14 1996, S. 110–121.
2 So zum Beispiel der nicht rezipierte Christopher Neumaier, der den Zäsurcharakter der 1960er und 1970er in der Familiengeschichte ablehnt und den Beginn der modernen Familie bereits im Kaiserreich suchte, also durchaus mit Eibachs Untersuchungszeitraum überlappte: Christopher Neumaier, Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
04.07.2023
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