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Der äußeren Präsentation des Bandes entspricht die inhaltliche Fülle. Der Sammelband mit 29 Beiträgen und einem ausführlichen Anhang widmet sich auf 544 Seiten der Reformation in Zürich. Titel und Untertitel markieren zwei wesentliche Entscheidungen: Zum einen weist das Adjektiv „gelebt“ vor „Reformation“ darauf hin, dass nicht die normativen Ideale von „Reformation“, entfaltet etwa in theologischen Traktaten oder obrigkeitlichen Verlautbarungen, bevorzugter Gegenstand sind, sondern die Umsetzung im vielfältigen, alltäglichen Leben des frühneuzeitlichen Zürich. Zum anderen zeigt die zeitliche Angabe von 1500 bis 1800 im Untertitel an, dass dem Band das Konzept einer „langen Reformation“ zugrunde liegt. Die Beiträge sind auf acht Kapitel aufgeteilt, die jeweils mit zwei Verben überschrieben das „Leben“ aus dem Haupttitel aufnehmen sollen. Im ersten Kapitel „Sich abgrenzen und sich annähern“ umreißt André Holenstein den gegenseitigen politischen Umgang der konfessionell geprägten eidgenössischen Orte sowie deren Bündnisbestrebungen innerhalb der Eidgenossenschaft und über diese hinaus, wobei der pragmatische politische Umgang innerhalb der Eidgenossenschaft und die Rücksicht auf gemeinsame Interessen nach außen die konfessionellen Spielräume sichtbar machen. Fabrice Flückiger erläutert an den zwei Disputationen von 1523 die Annäherung der reformatorischen Kreise um Zwingli an die weltliche Obrigkeit und auch die Mittel der Abgrenzung gegenüber der etablierten Kirche. Francisca Loetz behandelt „Begegnungen“ mit dem Islam, die durch literarische Bilder in unterschiedlichen Textgattungen, aber auch durch wenige physische Kontakte greifbar sind. Im zweiten Kapitel „Lesen und lernen“ zeigt Bruce Gordon den weiten Weg vom traditionellen Klerus zu einer reformierten Pfarrerschaft auf. Aufschlussreich ist der Hinweis, dass die Pfarrer ein entbehrungsreiches Leben führten und der Nachwuchs durchaus nicht selbstverständlich war. Anja Lobenstein-Reichmann untersucht die Unternehmung der Zürcher Bibelübersetzung, ihre Bezüge zum Wittenberger Unterfangen, setzt sie in den erhellenden sprachgeschichtlichen Zusammenhang des Frühneuhochdeutschen und arbeitet die unterschiedlichen Übersetzungskonzepte heraus. Zum Kapitel passen Michael Eggers Ausführungen über Alphabetisierung, Lesestoffe und Volksbildung, wofür die Verzeichnisse der Bevölkerung, die „Seelenbeschreibungen“, die seit 1633 angelegt wurden, ausgezeichnete Einblicke bieten. Unter dem Titel „Sehen und hören“ behandeln Martina Stercken die Veränderungen des Stadtraumes im 16. Jahrhundert durch Umwidmung der Nutzung oder durch Abbruch von Gebäuden, Hildegard E. Keller den Aufschwung des Theaters in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Verbot in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Carola Jäggi den differenzierten Umgang mit Bildwerken nach der Reformation sowie Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder die Praxis des Kirchengesangs in der Stadt und auf der Landschaft bis in das 18. Jahrhundert. Mit „Streiten und bezeugen“ ist das vierte Kapitel benannt. Es umfasst Peter Niederhäusers Darlegungen über die kirchlichen Umstände und das Pfarramt auf der Zürcher Landschaft und Nicole Zellwegers Untersuchung des Wirtshauses als Ort konfessioneller Auseinandersetzung, die sich vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert inhaltlich veränderten. Urs B. Leu behandelt das nicht nur für Zürich dunkle Kapitel der Täufer:innen, von der Obrigkeit verfolgt und von der Dorfbevölkerung respektiert. Das fünfte Kapitel „Ausgrenzen und aufnehmen“ umfasst drei Beiträge: Markus Brühlmeier und Dominik Sieber zeigen Kontinuität und Entwicklung des Armenwesens sowie deren Situierung in der reformierten Gesellschaft auf. Eveline Szarka untersucht die Inanspruchnahme religiöser Inhalte wie Segensprüche durch Laien, um Krankheiten zu bewältigen, was von den etablierten kirchlichen und obrigkeitlichen Kreisen als „Zauberei“ zurückgewiesen wurde. Peter Niederhäusers Artikel widmet sich der Frage, wie Nonnen und Mönche der Zürcher Landklöster behandelt wurden und welche Möglichkeiten der Lebensgestaltung ihnen offenstanden. Das Thema Sexualität nimmt das sechste Kapitel unter der Überschrift „Nicht eheliche Sexualität dulden und bestrafen“ auf. Francisca Loetz behandelt Eherecht und Ehegericht, etablierte Sexualität zwischen heterosexuellen Ehepaaren, Scheidung von Ehen und den Umgang mit vorehelichem Geschlechtsverkehr. Auch nicht eheliche Formen von Sexualität, die im reformierten Zürich als „ehrlos“ beurteilt wurden, sowie der theologische, rechtliche und institutionelle Umgang damit kommen im Beitrag von Adrina Schulz zur Sprache. Markus Brühlmeier geht der Homosexualität nach, auf die für Männer und Frauen in Zürich die Todesstrafe stand, wobei sich keine grundsätzlichen konfessionellen Unterschiede im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Handlungen zeigen. Das siebte Kapitel „Glauben und zweifeln“ legt einerseits von der Norm abweichende Formen religiöser Praxis dar wie der Glaube an und der Umgang mit Geistern (Eveline Szarka) oder das Fluchen, Schwören und Leugnen von Gott (Francisca Loetz), andererseits kommt die seelsorgerliche Praxis der Pfarrer zwischen sozialer Überwachung und alltagspraktischer Begleitung durch Ermahnen, Belehren, Trösten und Beraten zur Sprache (Nicole Zellweger). Verschiedene Quellenbestände in unterschiedlichen Archiven werden im achten Kapitel „Quellen“ aufgenommen. Randolph C. Head zeigt exemplarisch an reformatorischer Briefkorrespondenz auf, wie durch das Sammeln, Ordnen und Archivieren die Überlieferung gesteuert und dadurch das Bild der Geschichte geprägt wird. Weitere für die Geschichte der „Reformation“ wesentliche Quellengattungen werden umrissen wie obrigkeitliche Mandate (Nicole Zellweger), kirchliche Dokumente aus dem Antistitialarchiv (Rainer Henrich), Protokolle des Ratsgerichts (Francisca Loetz) oder der landschaftlichen Sittengerichte (Peter Niederhäuser). Sehr plausibel wird in diesem Kapitel auch auf überlieferte Objekte als materielle Quellen hingewiesen wie beispielsweise Schmuck, bildliche Darstellungen oder Waffen (Christian Hörack). Der Anhang bietet exemplarische, handschriftliche Quellenstücke in transkribierter Form, die Einblick in den „gelebten Alltag“ (S. 464) geben, wie etwa verschiedene Quellen zu Mustapha Caffa, einem konvertierten Türken, einem Schreiben Heinrich Bullingers an Agatha Zoller zur Einschätzung eines bildlichen Wirkteppichs, einen Antrag zur Finanzierung einer Pfarrstelle in einem Dorf, eine „Kundschaft“ über eine Auseinandersetzung im Wirtshaus, Verhörakten von einem Täufer, ein Verzeichnis der Almosenkasse oder Ehegerichtsakten zu Scheidung, Ehebruch und Homosexualität. Der Sammelband wird durch mehrere „Hilfsmittel“ erschlossen: Im Anhang findet sich eine chronologisch aufgebaute Tabelle, welche die Zürcher Reformation „ereignisgeschichtlich“ von 1519 bis 1772 darlegt. Eine weitere Tabelle verzeichnet wichtige religiöse Topoi, die differenziert nach den zwei Konfessionen ausgeführt werden. Ein Register bietet zudem Orte, Personennamen und Sachbegriffe. Hilfreiche, kurze Zusammenfassungen in deutscher Sprache und englischer Übersetzung gehen jedem Beitrag voraus. Der Sammelband ist in seiner äußeren Ausgestaltung und der formalen Ausführung vorbildlich sowie inhaltlich außerordentlich anregend. Die interdisziplinär zusammengestellten Beiträge ermöglichen ungewohnte und vertiefte Einblicke in eine konfessionell reformiert ausgestaltete Gesellschaft. Die Beiträge stützen sich durchweg auf eingehende Quellenarbeiten ab. Immer wieder reflektieren sie die Quellenlage und damit auch deren inhaltliche Reichweite und Aussagekraft. Wiederholt werden offene Fragen für weiterführende Forschungen gestellt. Neben den Textquellen bieten die Beiträge auch Bildquellen, die nicht einfach der Illustration, sondern der inhaltlichen Darlegung des Themas dienen. Vorbildlich ist auch die Zusammenarbeit mit Beiträger:innen, die verschiedenen beruflichen Hintergründen und unterschiedlichen Ebenen der akademischen Tätigkeit entstammen (S. 10). Um diese interdisziplinäre und akademisch vielfältige Zusammenarbeit sichtbar zu machen, wäre ein Verzeichnis der Beiträger:innen hilfreich. Der Ansatz des Sammelbandes, unterschiedliche Lebensbereiche einer konfessionell geprägten Gesellschaft zu untersuchen, ist unbedingt zu würdigen, zumal die Ergebnisse die Kenntnisse der gewählten Zeitspanne enorm bereichern. Zugleich zeigt der Band auf, dass es bei diesem Unterfangen nicht ratsam ist, „lebensweltliche Praxis“ von einer „normativen, ideellen Vorstellungswelt“ zu trennen, weil letztlich beide relational miteinander verbunden sind. „Gelebte Reformation“ ist ohne die zeitgenössischen „ideellen“ Vorstellungen von Reformation nicht wirklich nachzuvollziehen. Gerade weil die Beiträge immer wieder auf bestimmte Bestände reformierter Theologie Bezug nehmen, wäre daher ein Überblicksartikel zur Entwicklung der Lehre hilfreich, wie dies analog für die Religionspolitik der Eidgenossenschaft instruktiv geschieht. Auch die Formierung und Konsolidierung der Kirche vom Widerspruch und Aufbruch zur etablierten reformierten Kirche, die selbst zum Mittel obrigkeitlicher Machtausübung wurde, kommt kaum zur Sprache. Einer der unbestreitbaren Vorteile eines Konzepts der „langen Reformation“ liegt darin, Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte verfolgen zu können. Damit tritt aber auch die Frage nach unterschiedlichen reformerischen Bewegungen auf, vorreformatorisch etwa humanistische, innerkirchliche Reformen, danach etwa orthodoxe, pietistische und aufklärerische Bestrebungen, die ausdrücklich und zum Teil vehement die Lebenspraxis suchten. Der vorliegende Sammelband ruft geradezu nach einer synthetisierenden methodischen Reflexion zum Konzept von „gelebter Reformation“ verbunden mit dem Konzept einer „langen Reformation“, wie es im Vorwort von Francisca Loetz angesprochen wird. 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Da fand sich erfreulicherweise auch etwas Geld für Forschung, wie sich dieses welthistorische Ereignis auf Zürich auswirkte, in den folgenden Jahrhunderten und bis heute. Dafür legt Francisca Loetz einen reich bebilderten Band mit 22 Beiträgen sowie Quellenbeispielen von Sittenmandaten bis zu Stillstandsprotokollen vor. Er stellt, mit Tiefenbohrungen ins Alltagsleben der Zürcherinnen und Zürcher, die Reformation nicht als Disruption dar, sondern als langwierigen gesellschaftlichen Prozess, der im Mittelalter wurzelt und dessen Auswirkungen bis ins 18. Jahrhundert reichen. «Der Band sucht somit exemplarisch zu veranschaulichen», schreibt die Herausgeberin in ihrer kurzen Einleitung, «unter welchen innovativen Blickwinkeln Reformationsgeschichte dargestellt werden kann». Die Beiträge sollen einerseits den Forschungsstand darlegen, anderseits aber auch auf neue Fragen verweisen, für die Experten wie für das Publikum. 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Eveline Szarka spürt so dem Glauben an spukende Geister nach, als «vielseitiges Phänomen der alltäglichen Lebensbewältigung, die den theologischen Dogmen nicht folgte». Nicole Zellweger führt die Praktiken der Seelsorger auf der Landschaft vor, im Spannungsfeld zwischen sozialer Kontrolle und empathischer Lebenshilfe, die nicht mehr von vermittelnden Instanzen wie der Jungfrau Maria und den Heiligen kommen durfte. Adrina Schulz nimmt sich die Huren vor, die sich nach der Schliessung der mittelalterlichen «Frauenhäuser» privat durchschlagen mussten, und Markus Brühlmeier die Schwulen mit ihrer «stummen Sünde »: Die Verfolgung von abweichenden Sexualpraktiken, so seine Erkenntnis, unterschied sich in reformierten und katholischen Gebieten nicht. Spannend sind denn auch vor allem Beiträge, die das Alltagsleben der Zürcher Reformierten vergleichen, sei es mit jenem ihrer Vorfahren vor Zwingli oder mit jenem der Nachbarn in den Ständen, die beim alten Glauben blieben. Da zeigt sich die Reformation, wie Francisca Loetz in der Einleitung betont, tatsächlich nicht als Umbruch, sondern als Wandel, der sich über Jahrzehnte hinzog, wenn er überhaupt stattfand. Eveline Szarka schreibt auch zum Lachsnen und Segnen, also dem Heilzauber, den die Reformatoren ausrotten wollten, weil für sie jegliche sakrale Schutz- und Heilwirkung allein von Gott ausgehen konnte. Und sie kommt nach jahrhundertelangem Kampf der Obrigkeit zum Schluss, eine Einteilung der Praktiken in katholische und reformierte Formen sei wenig fruchtbar: «Die Zürcher und Zürcherinnen waren durchaus gewillt, vorreformatorische und katholische Elemente in ihre Behandlungen zu übernehmen.» Ein überraschendes Fazit zieht auch Michael Egger, der in einem dichten, teils datengestützten Beitrag nachzeichnet, wie sich die zentrale Forderung der Reformatoren auswirkte: dass alle Gläubigen selbst die Bibel lesen, also ohne Vermittlung der Kirche ihr Seelenheil finden sollten. Der Autor zeigt zwar mit den «Seelenbeschreibungen», die die Pfarrherren zu ihren Gemeinden abliefern mussten (aber auch gestützt auf die vierzig Jahre alte Dissertation von Marie-Louise von Wartburg-Ambühl),[1] wie sich der Bücherbestand, also wohl auch die Lesefähigkeit, im 17. und im 18. Jahrhundert auf der Landschaft verbreitete. Doch er stellt fest, es wäre zu einfach, daraus auf einen den Reformatoren geschuldeten Bildungsvorsprung zu schliessen: Am Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem in der Helvetischen Schulumfrage von 1799, zeigte er sich im Vergleich mit den Katholiken nicht. Am meisten Aufschlüsse bieten so jene Beiträge, die zeigen, dass sich die «gelebte, das heisst körperlich, sensorisch und sozial erfahrene Reformation» nicht direkt aus den Dogmen der Reformatoren ableiten liess, weil sich diese selbst wandelten. Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder stellen es bei der Praxis des Kirchengesangs fest: Der Musikliebhaber Zwingli verbot ihn, weil er das Singen als Herzensgebet im «kämerlin» verstand; der Rat holte ihn aber 1598 nach siebzig Jahren Stille in den Kirchenraum zurück, da er gemäss einem Gutachten «der substanz der religion nüt gäbe und nüt nemme». Martina Stercken und Carola Jäggi spüren den Wirkungen der Reformation im Stadtbild nach und stellen fest, der neue Glaube habe weder schlagartige Veränderungen noch restlos neue Verhältnisse gebracht: «Anders als man dies vielleicht annehmen würde, geht das heutige kahle Gepräge des Innenraums des Grossmünsters nicht auf die Ereignisse der 1520er-Jahre zurück, sondern auf mehrere tiefgreifende Restaurierungsmassnahmen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.» Und zu ähnlichen Schlüssen kommt Hildegard E. Keller, die den auffallendsten Bruch in den Auffassungen der Zürcher Geistlichen präzise aufzeigt: Sie begrüssten im 16. Jahrhundert aufwendige Freilichtspiele, bei denen sich die Bürgerschaft selber feierte. Und sie verdammten im 17. Jahrhundert das Theater, in Person von Antistes Johann Jakob Breitinger, weil es als katholische Lustbarkeit das Bilderverbot verletze. Diese lebensfeindliche Haltung lässt sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert beobachten; sie ist wohl mit der Krisenerfahrung nach dem Einbruch der kleinen Eiszeit zu erklären. Die frostige Zeit nach Breitingers Diffamierung des Theaters begründete für Hildegard E. Keller erst das Image eines fest- und lustfeindlichen Zürich: «Es hielt sich lange genug, dass niemand mehr an die Möglichkeit zu denken schien, dass es in Zwinglis Zürich und nach der Reformation ganz anders zu- und hergegangen sein könnte.» Nach diesen überzeugenden, weil differenzierten Detailstudien fehlt allerdings eine Synthese. Sie müsste darstellen, wie sich der Umbruch von 1519 bis 1522 insgesamt auf das Leben der Zürcherinnen und Zürcher auswirkte und bis heute auswirkt. Und sie könnte die Entwicklung in Zürich in grosse Debatten einbinden, so in die seit einem Jahrhundert – von Max Weber bis Joseph Henrich – laufende um den Aufstieg Westeuropas, also die Great Divergence, oder in jene um die Territorialisierung, das heisst die Staatenbildung, bei der in Zürich die Kirche eine entscheidende Funktion hatte. Dazu forschten vor vierzig Jahren schon Schüler von Rudolf Braun, wie Ulrich Pfister[2] David Gugerli[3] oder der Rezensent, [4] der seine Dissertation scherzhaft als «Essay über die Verdüsterung des Zürcher Gemüts seit der Reformation» bezeichnete. Ihre Ansätze werden zwar gerne aufgegriffen, aber nie zitiert. Wer auf diese Vorläufer verweisen würde, könnte nicht so selbstbewusst den Anspruch erheben, innovative Reformationsgeschichte zu schreiben. Anmerkungen [1] Marie-Louise von Wartburg-Ambühl, Alphabetisierung und Lektüre. Untersuchung am Beispiel einer ländlichen Region im 17. und 18. Jahrhundert, Bern 1981. [2] Ulrich Pfister, Die Anfänge von Geburtenbeschränkung. Eine Fallstudie (ausgewählte Zürcher Familien im 17. und 18. Jahrhundert), Bern 1985. [3] David Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt. Die protestantische Pfarrfamilie auf der Zürcher Landschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, Zürich 1988. [4] Markus Schär, Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich, 1500–1800, Zürich 1985. Zitierweise: Schär, Markus: Rezension zu: Loetz, Francisca (Hg.): Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2022. Zuerst erschienen in: |http://www.sgg-ssh.ch/de/publikationen/schweizerische-zeitschrift-fuer-geschichte-szg|Schweizerische Zeitschrift für Geschichte| 73(1), 2023, S. 59-61. Online: ." 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Loetz (Hrsg.): Gelebte Reformation | infoclio - Rezensionen

F. Loetz (Hrsg.): Gelebte Reformation

Cover
Titel
Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800


Herausgeber
Loetz, Francisca
Erschienen
Zürich 2022: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Sallmann, Institut für Historische Theologie, Theologische Fakultät, Universität Bern

Ein stattliches Buch in bibliophiler Ausführung und bis in die Details sorgfältig bearbeitet gilt es zu besprechen. Der äußeren Präsentation des Bandes entspricht die inhaltliche Fülle. Der Sammelband mit 29 Beiträgen und einem ausführlichen Anhang widmet sich auf 544 Seiten der Reformation in Zürich. Titel und Untertitel markieren zwei wesentliche Entscheidungen: Zum einen weist das Adjektiv „gelebt“ vor „Reformation“ darauf hin, dass nicht die normativen Ideale von „Reformation“, entfaltet etwa in theologischen Traktaten oder obrigkeitlichen Verlautbarungen, bevorzugter Gegenstand sind, sondern die Umsetzung im vielfältigen, alltäglichen Leben des frühneuzeitlichen Zürich. Zum anderen zeigt die zeitliche Angabe von 1500 bis 1800 im Untertitel an, dass dem Band das Konzept einer „langen Reformation“ zugrunde liegt.

Die Beiträge sind auf acht Kapitel aufgeteilt, die jeweils mit zwei Verben überschrieben das „Leben“ aus dem Haupttitel aufnehmen sollen. Im ersten Kapitel „Sich abgrenzen und sich annähern“ umreißt André Holenstein den gegenseitigen politischen Umgang der konfessionell geprägten eidgenössischen Orte sowie deren Bündnisbestrebungen innerhalb der Eidgenossenschaft und über diese hinaus, wobei der pragmatische politische Umgang innerhalb der Eidgenossenschaft und die Rücksicht auf gemeinsame Interessen nach außen die konfessionellen Spielräume sichtbar machen. Fabrice Flückiger erläutert an den zwei Disputationen von 1523 die Annäherung der reformatorischen Kreise um Zwingli an die weltliche Obrigkeit und auch die Mittel der Abgrenzung gegenüber der etablierten Kirche. Francisca Loetz behandelt „Begegnungen“ mit dem Islam, die durch literarische Bilder in unterschiedlichen Textgattungen, aber auch durch wenige physische Kontakte greifbar sind.

Im zweiten Kapitel „Lesen und lernen“ zeigt Bruce Gordon den weiten Weg vom traditionellen Klerus zu einer reformierten Pfarrerschaft auf. Aufschlussreich ist der Hinweis, dass die Pfarrer ein entbehrungsreiches Leben führten und der Nachwuchs durchaus nicht selbstverständlich war. Anja Lobenstein-Reichmann untersucht die Unternehmung der Zürcher Bibelübersetzung, ihre Bezüge zum Wittenberger Unterfangen, setzt sie in den erhellenden sprachgeschichtlichen Zusammenhang des Frühneuhochdeutschen und arbeitet die unterschiedlichen Übersetzungskonzepte heraus. Zum Kapitel passen Michael Eggers Ausführungen über Alphabetisierung, Lesestoffe und Volksbildung, wofür die Verzeichnisse der Bevölkerung, die „Seelenbeschreibungen“, die seit 1633 angelegt wurden, ausgezeichnete Einblicke bieten.

Unter dem Titel „Sehen und hören“ behandeln Martina Stercken die Veränderungen des Stadtraumes im 16. Jahrhundert durch Umwidmung der Nutzung oder durch Abbruch von Gebäuden, Hildegard E. Keller den Aufschwung des Theaters in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Verbot in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Carola Jäggi den differenzierten Umgang mit Bildwerken nach der Reformation sowie Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder die Praxis des Kirchengesangs in der Stadt und auf der Landschaft bis in das 18. Jahrhundert.

Mit „Streiten und bezeugen“ ist das vierte Kapitel benannt. Es umfasst Peter Niederhäusers Darlegungen über die kirchlichen Umstände und das Pfarramt auf der Zürcher Landschaft und Nicole Zellwegers Untersuchung des Wirtshauses als Ort konfessioneller Auseinandersetzung, die sich vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert inhaltlich veränderten. Urs B. Leu behandelt das nicht nur für Zürich dunkle Kapitel der Täufer:innen, von der Obrigkeit verfolgt und von der Dorfbevölkerung respektiert.

Das fünfte Kapitel „Ausgrenzen und aufnehmen“ umfasst drei Beiträge: Markus Brühlmeier und Dominik Sieber zeigen Kontinuität und Entwicklung des Armenwesens sowie deren Situierung in der reformierten Gesellschaft auf. Eveline Szarka untersucht die Inanspruchnahme religiöser Inhalte wie Segensprüche durch Laien, um Krankheiten zu bewältigen, was von den etablierten kirchlichen und obrigkeitlichen Kreisen als „Zauberei“ zurückgewiesen wurde. Peter Niederhäusers Artikel widmet sich der Frage, wie Nonnen und Mönche der Zürcher Landklöster behandelt wurden und welche Möglichkeiten der Lebensgestaltung ihnen offenstanden.

Das Thema Sexualität nimmt das sechste Kapitel unter der Überschrift „Nicht eheliche Sexualität dulden und bestrafen“ auf. Francisca Loetz behandelt Eherecht und Ehegericht, etablierte Sexualität zwischen heterosexuellen Ehepaaren, Scheidung von Ehen und den Umgang mit vorehelichem Geschlechtsverkehr. Auch nicht eheliche Formen von Sexualität, die im reformierten Zürich als „ehrlos“ beurteilt wurden, sowie der theologische, rechtliche und institutionelle Umgang damit kommen im Beitrag von Adrina Schulz zur Sprache. Markus Brühlmeier geht der Homosexualität nach, auf die für Männer und Frauen in Zürich die Todesstrafe stand, wobei sich keine grundsätzlichen konfessionellen Unterschiede im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Handlungen zeigen.

Das siebte Kapitel „Glauben und zweifeln“ legt einerseits von der Norm abweichende Formen religiöser Praxis dar wie der Glaube an und der Umgang mit Geistern (Eveline Szarka) oder das Fluchen, Schwören und Leugnen von Gott (Francisca Loetz), andererseits kommt die seelsorgerliche Praxis der Pfarrer zwischen sozialer Überwachung und alltagspraktischer Begleitung durch Ermahnen, Belehren, Trösten und Beraten zur Sprache (Nicole Zellweger).

Verschiedene Quellenbestände in unterschiedlichen Archiven werden im achten Kapitel „Quellen“ aufgenommen. Randolph C. Head zeigt exemplarisch an reformatorischer Briefkorrespondenz auf, wie durch das Sammeln, Ordnen und Archivieren die Überlieferung gesteuert und dadurch das Bild der Geschichte geprägt wird. Weitere für die Geschichte der „Reformation“ wesentliche Quellengattungen werden umrissen wie obrigkeitliche Mandate (Nicole Zellweger), kirchliche Dokumente aus dem Antistitialarchiv (Rainer Henrich), Protokolle des Ratsgerichts (Francisca Loetz) oder der landschaftlichen Sittengerichte (Peter Niederhäuser). Sehr plausibel wird in diesem Kapitel auch auf überlieferte Objekte als materielle Quellen hingewiesen wie beispielsweise Schmuck, bildliche Darstellungen oder Waffen (Christian Hörack).

Der Anhang bietet exemplarische, handschriftliche Quellenstücke in transkribierter Form, die Einblick in den „gelebten Alltag“ (S. 464) geben, wie etwa verschiedene Quellen zu Mustapha Caffa, einem konvertierten Türken, einem Schreiben Heinrich Bullingers an Agatha Zoller zur Einschätzung eines bildlichen Wirkteppichs, einen Antrag zur Finanzierung einer Pfarrstelle in einem Dorf, eine „Kundschaft“ über eine Auseinandersetzung im Wirtshaus, Verhörakten von einem Täufer, ein Verzeichnis der Almosenkasse oder Ehegerichtsakten zu Scheidung, Ehebruch und Homosexualität.

Der Sammelband wird durch mehrere „Hilfsmittel“ erschlossen: Im Anhang findet sich eine chronologisch aufgebaute Tabelle, welche die Zürcher Reformation „ereignisgeschichtlich“ von 1519 bis 1772 darlegt. Eine weitere Tabelle verzeichnet wichtige religiöse Topoi, die differenziert nach den zwei Konfessionen ausgeführt werden. Ein Register bietet zudem Orte, Personennamen und Sachbegriffe. Hilfreiche, kurze Zusammenfassungen in deutscher Sprache und englischer Übersetzung gehen jedem Beitrag voraus.

Der Sammelband ist in seiner äußeren Ausgestaltung und der formalen Ausführung vorbildlich sowie inhaltlich außerordentlich anregend. Die interdisziplinär zusammengestellten Beiträge ermöglichen ungewohnte und vertiefte Einblicke in eine konfessionell reformiert ausgestaltete Gesellschaft. Die Beiträge stützen sich durchweg auf eingehende Quellenarbeiten ab. Immer wieder reflektieren sie die Quellenlage und damit auch deren inhaltliche Reichweite und Aussagekraft. Wiederholt werden offene Fragen für weiterführende Forschungen gestellt. Neben den Textquellen bieten die Beiträge auch Bildquellen, die nicht einfach der Illustration, sondern der inhaltlichen Darlegung des Themas dienen. Vorbildlich ist auch die Zusammenarbeit mit Beiträger:innen, die verschiedenen beruflichen Hintergründen und unterschiedlichen Ebenen der akademischen Tätigkeit entstammen (S. 10). Um diese interdisziplinäre und akademisch vielfältige Zusammenarbeit sichtbar zu machen, wäre ein Verzeichnis der Beiträger:innen hilfreich.

Der Ansatz des Sammelbandes, unterschiedliche Lebensbereiche einer konfessionell geprägten Gesellschaft zu untersuchen, ist unbedingt zu würdigen, zumal die Ergebnisse die Kenntnisse der gewählten Zeitspanne enorm bereichern. Zugleich zeigt der Band auf, dass es bei diesem Unterfangen nicht ratsam ist, „lebensweltliche Praxis“ von einer „normativen, ideellen Vorstellungswelt“ zu trennen, weil letztlich beide relational miteinander verbunden sind. „Gelebte Reformation“ ist ohne die zeitgenössischen „ideellen“ Vorstellungen von Reformation nicht wirklich nachzuvollziehen. Gerade weil die Beiträge immer wieder auf bestimmte Bestände reformierter Theologie Bezug nehmen, wäre daher ein Überblicksartikel zur Entwicklung der Lehre hilfreich, wie dies analog für die Religionspolitik der Eidgenossenschaft instruktiv geschieht. Auch die Formierung und Konsolidierung der Kirche vom Widerspruch und Aufbruch zur etablierten reformierten Kirche, die selbst zum Mittel obrigkeitlicher Machtausübung wurde, kommt kaum zur Sprache. Einer der unbestreitbaren Vorteile eines Konzepts der „langen Reformation“ liegt darin, Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte verfolgen zu können. Damit tritt aber auch die Frage nach unterschiedlichen reformerischen Bewegungen auf, vorreformatorisch etwa humanistische, innerkirchliche Reformen, danach etwa orthodoxe, pietistische und aufklärerische Bestrebungen, die ausdrücklich und zum Teil vehement die Lebenspraxis suchten. Der vorliegende Sammelband ruft geradezu nach einer synthetisierenden methodischen Reflexion zum Konzept von „gelebter Reformation“ verbunden mit dem Konzept einer „langen Reformation“, wie es im Vorwort von Francisca Loetz angesprochen wird.

Was kann noch mehr erwartet werden, als dass ein formal und inhaltlich rundum schöner Sammelband die Forschung inhaltlich und methodisch anregt und so tatsächlich einen „frischen Zugang zur Zürcher Reformation“ bietet (Vorwort, S. 10, und Rückdeckel)?

Redaktion
Veröffentlicht am
14.08.2023
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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