T. Zaugg: Bundesrat Philipp Etter (1891–1977)

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Titel
Bundesrat Philipp Etter (1891–1977).


Autor(en)
Zaugg, Thomas
Erschienen
Basel 2020: NZZ Libro
Anzahl Seiten
766 S.
Preis
CHF 58.00
von
Josef Lang

Der Privatnachlass Philipp Etters, Bundesrat von 1934 bis 1959, war bis 2014, als er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ein Gerücht. Und bei diesem ging es vor allem um familiär verhinderten Zugang und verschwundene Akten. Dank Thomas Zauggs Erschliessung und der umfassenden Biografie wissen wir, dass Etter selber Briefe «eigenhändig zerstört» hat und der Bestand «auch von Familienmitgliedern vor der Abgabe im Staatsarchiv Zug mehrfach durchgesehen» wurde (S. 24). Allerdings wird diese Frage vom Autor ungenügend problematisiert. Wie auch die «Gefahr einer apologetischen Lesart », wovor der von Zaugg zitierte Hans-Ulrich Jost gewarnt hat (S. 25).

Aus den vorhandenen «rund 13 Laufmetern» (S. 24) hat der Autor einige neue Erkenntnisse gewonnen. Die wohl wichtigste lautet: Etter gehörte nicht nur «zu den Jungen» (S. 201), wie sich Etter 1933 selber beschrieb, sondern auch zu den Innerschweizern (S. 157). Zaugg ist diese Neubeurteilung wichtig, um Etter als Gemässigten erscheinen zu lassen. Allerdings ist das Bild, das er vom Innerschweizer Konservativismus und von den Älteren entwirft, ein arg verharmlosendes. So widerspricht der Versuch, für die konservativ-frontistische Bündnisinitiative zugunsten einer Totalrevision der Bundesverfassung ausschliesslich die Freiburger und die Diaspora sowie die Jungen verantwortlich zu machen, offensichtlichen Tatsachen. So haben 1934 im Kanton Zug mit 14,5% doppelt so viele Stimmbürger die Initiative unterschrieben wie im schweizerischen Durchschnitt. Und danach haben die Zuger wie die Luzerner Katholisch-Konservativen einstimmig die Ja-Parole beschlossen. Die Hinweise des Zuger Freisinns auf Etters antiliberale Schärfe vor der Bundesratswahl vom 27. März 1934 wertet Zaugg als «das kritische Raunen aus der Zuger Lokalpolitik» ab (S. 247).

Wie Zaugg den Mythos «der gemässigten Innerschweizer Linie», von der Etter ein «Teil» gewesen sei (S. 104), pflegt, illustriert seine Weichzeichnung deren wichtigsten Vertreters in der Zwischenkriegszeit und frühen Kriegszeit: Heinrich Walther. Der als «Königsmacher» in die Geschichte eingegangene Luzerner Regierungsrat (1894–1937) und Nationalrat (1908–1943), der 1919 bis 1940 Fraktionschef der Konservativen war, wird von Zaugg elf Mal als Etters «Ziehvater» bezeichnet. Er präsentiert diesen als «Politiker der Innerschweizer Linie aus den 1920er-Jahren» (S. 226), die damals «auf einen gemässigten Zentrumskurs eingeschwenkt» (S. 237) sei. Aber Walther ist spätestens durch den Generalstreik ein rechtskonservativer Hardliner geworden, der mit dem Schweizerischen Vaterländischen Verband und dessen Kopf Eugen Bircher enger verbunden war, als Zaugg erkennen lässt. So brachte er nach dem Genfer Massaker vom 9. No vember 1932, für das er die Linke verantwortlich machte, den sofortigen Ausschluss des Genfer SP-Nationalrats Léon Nicole aus den Ratsverhandlungen durch. Er war einer der beiden Hauptinitianten der Lex Häberlin II, die 1934 an der Urne scheiterte. Zaugg übergeht auch den berühmtesten Artikel, den Walther publizierte: «Die Stunde der Abrechnung mit dem Bolschewismus?» (Vaterland, 18. 7. 1941) und die berüchtigte «Sacro Egoismo »-Rede, die er am 23. September 1942 im Nationalrat gehalten hat. Der Text unterstützte den nazideutschen Ostfeldzug, die Ansprache im Nationalrat den Bundesrat gegen die «Überflutung mit zweifelhaften Elementen».

Auch was die Boot-ist-voll-Politik und den Antisemitismus betrifft, versucht Zaugg Etter möglichst zu entlasten. So habe die «Furcht vor Unzufriedenheit und einem latenten Antisemitismus in der Bevölkerung […] die Flüchtlingspolitik bestimmt.» (S. 565). War der Antisemitismus von Verantwortlichen wie Etter nicht mindestens so bestimmend? So bleibt Etters Intervention anfangs 1948 bei SP-Bundesrat Ernst Nobs gegen die Anstellung von Max Iklé mit dem Hinweis auf dessen jüdische Vorfahren bei Zaugg unerwähnt. Dieser Skandal, in dem Nobs sich veranlasst sieht, Etter die Shoa in Erinnerung zu rufen, mag im Privatnachlass fehlen. Aber er ist nachzulesen in der Nobs-Biografie von Tobias Kästli aus dem Jahre 1995.1 Zaugg sieht indes nach 1945 bei Etter höchstens noch «eine Form des kirchlichen Antisemitismus» (S. 704).

Zaugg übergeht auch andere Personen und Fragen, die wichtig sind, um die Innerschweiz und Etter zu verstehen. Beispielsweise kommt der einflussreichste Innerschweizer Geistliche der 1930er und 1940er Jahre, der mit Etter verbundene Bestseller-Autor Josef Konrad Scheuber, überhaupt nicht vor. Scheuber illustriert, wie juden-, linken- und vor allem frauenfeindlich das katholische Milieu in der Innerschweiz war. Dies bestätigt sich in den 80 Prozent Nein bei der eidgenössischen Volksabstimmung über das Frauenstimmrecht 1959. Was dieses betrifft, erwähnt Zaugg Etters Gegenargumentation, beispielsweise in der bundesrätlichen Aussprache vom 28. 12. 1956, in keinem Wort.2 Zaugg kommt erst aufs Thema zu sprechen, als er vermelden kann: «Der einstige Gegner des Frauenstimmrechts liess sich allmählich vom Gegenteil überzeugen.» (S. 704) In der Anmerkung wird mit einem frauenfreundlichen Privatzitat des Pensionärs nachgedoppelt.

Eine typische Methode der Verharmlosung ist es, eine öffentliche Äusserung mit einer privaten zu relativieren. Zum 400. Jahrestag der Schlacht am Gubel veröffentlichte Etter im Rahmen katholisch-konservativer Feiern eine Broschüre. Die Ankündigung, die Anlässe und die Schrift führen zu heftigen Reaktionen der Freisinnigen und Sozialdemokraten. Zaugg stellt nicht diese öffentliche Debatte ins Zentrum, sondern Etters Fähigkeit, «sich» in einem privaten Brief «von seiner politischen Propaganda ironisch zu distanzieren» (S. 157).

Ebenfalls unerwähnt bleibt eine andere wichtige Figur: Emil Georg Bührle. Etter pflegte mit dem Kriegsmaterialproduzenten eine «freundschaftliche Beziehung»3 als Jagdkollege. Obwohl diese Nähe nachweislich der Exportförderung diente und Etters Verknüpfung von «Kanonen, Maschinengewehre(n) und Raketen» mit der Kunstsammlung als «geistige(r) Waffenschmiede»4 interessant ist, kommt auch der Name Bührle in der Etter-Biografie nicht vor.5

Zaugg schliesst seine Dissertation mit einer Bemerkung, die Etter auf dem Sterbebett gemacht hat: «dass er in seinem Leben viele Fehler gemacht habe» (S. 715). Wichtige «Fehler» bleiben in der Biografie unerwähnt. Von den genannten werden etliche relativiert oder verharmlost.

Anmekrung:
1 Tobias Kästli, Ernst Nobs. Vom Bürgerschreck zum Bundesrat. Ein politisches Leben, Zürich 1995, S. 283.
2 Jürg Schoch, «Die königliche Frau, die herrscht, ohne es zu wollen», in: Journal 21, 10. 9. 2010, https://www.journal21.ch/die-koenigliche-frau-die-herrscht-ohne-es-zu-wollen (25. 2. 2021).
3 Matthieu Leimgruber, Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus. Die Sammlung Emil Bührle im historischen Kontext, Zürich 2020, S. 122.
4 Philipp Etter: Zum Geleit, in: Kunsthaus Zürich (Hg.): Sammlung E.G. Bührle, Festschrift zu Ehren vom Emil G. Bührle zur Eröffnung des Kunsthauses-Neubaus und Katalog der Sammlung Bührle, Zürich 1958, S. 7 f.
5 Jürg Schoch, Als ein Waffenhändler im Koreakrieg den Bundesrat in die Knie zwang, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. 6. 2018, online unter: https://www.nzz.ch/schweiz/wie-buehrle-den-bundesrat-imkoreakrieg-in-die-knie-zwang-ld.1390388 (25. 2. 2021).

Zitierweise:
Lang, Josef: Rezension zu: Zaugg, Thomas: Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Eine politische Biografie, Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 551-553. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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