T. Zaugg: Bundesrat Philipp Etter (1891–1977)

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Titel
Bundesrat Philipp Etter (1891–1977).


Autor(en)
Zaugg, Thomas
Erschienen
Basel 2020: NZZ Libro
Anzahl Seiten
766 S.
Preis
CHF 58.00
von
Marco Jorio

Dem jungen Historiker Thomas Zaugg ist mit seinem Werk über Philipp Etter ein grosser Wurf gelungen. Es war ein Wagnis, seine Dissertation dem Zuger Bundesrat zu widmen, nachdem dieser nun schon seit rund drei Jahrzehnten zur «umstrittenen» Figur der Schweizer Geschichte deklariert wird. Der Exponent des politischen Katholizismus diente schon zu Lebzeiten als Feindbild und Projektionsfläche. Katholikenfeindliche Linke und Freisinnige lehnten ihn bei seiner Wahl in den Bundesrat 1934 als «Kreuzritter» ab, und die freiwirtschaftliche Zeitung «Freies Volk» verdächtigte Etter 1944, «mit schwarzer Färbung eine konservativ-autoritäre Eidgenossenschaft einzuführen, eine Eidgenossenschaft geistiger Unfreiheit und konfessioneller Unduldsamkeit». Der aus einfachen Verhältnissen stammende und joviale Etter war aber während seiner Amtszeit bis weit in Arbeiterkreise hinein beliebt. Im katholisch-konservativen Milieu wurde er geradezu verehrt. Noch Bonjour hielt den rede- und schreibgewandten Vater der Geistigen Landesverteidigung für einen der widerstandsbereiten Bundesräte gegen den faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismus. Die positive Stimmung schlug in den historiographisch turbulenten 1990er Jahren um. Etter wurde einer Revision unterzogen und in eine rechtsextreme, sogar faschistische Ecke gedrängt.

Thomas Zaugg zeichnet ebenfalls ein kritisches, aber insgesamt positiveres und differenziertes Bild von Etter. Ihm stand als Erster der seit 2014 öffentlich zugängliche Nachlass von Etter im Staatsarchiv Zug zur Verfügung, den er ordnete und auswertete.1 Obwohl dieser schon von Etter selber und dann von der Familie des Bundesrats «durchgesehen » wurde und daher nicht mehr ganz vollständig ist, kam genügend neues, auch heikles Material zum Vorschein. Auf dieser breiten Quellenbasis porträtiert Zaugg den Zuger als Milieupolitiker, der einen langen Weg ging vom militanten, antimodernistischen, antiliberalen und antisozialistischen Jungkatholiken bis zum konsensorientierten und kompromissbereiten Landesvater, der während des Krieges die bundesrätliche Überlebensstrategie und in den 1950er Jahren die Nachkriegsschweiz mitgestaltete, um schliesslich 1959 im Rahmen der «Zauberformel» der Sozialdemokratie den Weg in die Landesregierung zu bereiten. In Krisensituationen zeigte er sich allerdings oft überfordert.

Zaugg verfolgt den Lebensweg Etters vom Heimatdorf Menzingen bis in die letzte Lebensphase als Altbundesrat in Bern. In den chronologisch angeordneten Kapiteln geht der Autor auf ausgewählte umstrittene Fragen ein. Zwangsläufig bleiben so einige Aspekte unberücksichtigt: so etwa Etters Haltung zum Protestantismus oder zu den katholischen Liberalen, die immerhin eine starke Minderheit des schweizerischen Katholizismus bildeten. Die Etter-Biografie lässt auch offen, wie sich Etter im Rahmen des europäischen politischen Katholizismus zu verorten ist. Etter kann sicher nicht in den Kontext von Franco, Salazar, Mussolini oder gar Hitler, den er schon früh einen Verbrecher nannte, gestellt werden, sondern ist vielmehr im Rahmen der deutschen (katholischen) Zentrumspartei sowie der österreichischen Christlichsozialen bzw. der Nachkriegs-ÖVP zu sehen. Die Rezeption von gemässigt linkskatholischen Autoren wie François Mauriac sowie die Duzfreundschaft mit dem österreichischen Ex-Bundeskanzler Leopold Figl, aber auch der Briefwechsel mit dem nach Luzern exilierten linken Zentrumspolitiker Joseph Wirth weisen in diese Richtung.

Die Etter-Biografie räumt mit einer Reihe von Fehlinterpretationen auf. So belegt Zaugg, dass der Zuger 1934 im Rahmen einer erneuerten bürgerlichen Allianz zwischen Freisinn und katholischem Konservativismus als «frankophil, föderalistisch und antisozialistisch gesinnter Innerschweizer» gewählt wurde und seine Wahl kein Zugeständnis an die Frontisten und an die nach rechts abdriftenden Jungfreisinnigen und Jungkonservativen war. Auch hat der Rechtsintellektuelle Gonzague de Reynold bei der Abfassung der «Magna Charta» der Geistigen Landesverteidigung nicht die Feder geführt. Dazu waren der Freiburger Aristokrat und Demokratieverächter und der Menzinger Küfersohn zu verschieden. Und antidemokratisch war Etter schon gar nicht: Er lehnte zwar die repräsentative Demokratie liberaler Prägung ab, war aber ganz in der Tradition des katholischen Konservativismus ein Verfechter der direkten Demokratie und Gegner eines zu starken Parlaments. Etter vertrat, inspiriert von den Innerschweizer Landsgemeindekantonen mit ihren mächtigen Landammännern, die Idee einer starken Exekutive. Er distanzierte sich 1940 von der Idee einer Verfassungsrevision wie auch von der grotesken Idee aus dem Waadtland, ihn zum autoritären «eidgenössischen Landammann» zu erheben. Das Vollmachtenregime entsprach seiner Vorstellung einer vom Parlament weitgehend unabhängigen und starken Regierung.

Der Autor tritt auch dem Vorwurf des scharfen Antisemitismus entgegen, wie er in den letzten Jahren aufgrund einzelner aus dem Zusammenhang gerissener Zitate gegen Etter erhoben wurde. Etter war zwar wie viele seiner Zeitgenossen nicht frei von antijüdischen Stereotypen. Er war aber an der Judenfrage wenig interessiert, lehnte aber bereits im März 1933 die Judenverfolgung als etwas «unsäglich Rohes, Unmenschliches» (S. 142) ab und verteidigte 1943 die Ansicht, dass Antisemitismus «unserer schweizerischen Gesinnung» nicht entspreche (S. 568). Er äusserte zwar Vorbehalte gegen eine zu starke Zuwanderung durch jüdische Ausländer, setzte sich aber punktuell für Juden ein, so etwa für das Wiener Künstlerehepaar Wotruba (die Ehefrau war Jüdin), das sich in Zug niederlassen konnte, oder für die als Jüdin angefeindete Susanne Schwob, Künstlerin und Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission. Nach Zaugg vertrat Etter einen demokratischen, freiheitlichen Korporatismus, der die Selbstorganisation der Berufsverbände ohne staatlichen Zwang anstrebte, quasi ein Vorläufer der Sozialpartnerschaft. Im Friedensabkommen von 1937 sah Etter einen Schritt in die richtige Richtung. In der schweizerischen Geschichtsschreibung wird dieser aus der katholischen Soziallehre stammende demokratische Korporatismus meistens mit dem diktatorischen Ständestaat faschistischer Prägung verwechselt.

Ebenso widerlegt Zaugg den Vorwurf, Etter hätte eugenische Ideen im Geiste der biologistischen Nazi-Ideologie vertreten. Dabei weist er eine Reihe von Falschzitaten nach, die in der Forschung und den Medien bis heute verbreitet werden. So hat etwa Etter die Behinderten nicht gegen die Armee ausgespielt und Sparmassnahmen gefordert, sondern im Gegenteil zur tätigen Hilfe für die «Geprüften und Leidbeladenen» aufgefordert. Auch kommen die ihm in den Mund gelegten Begriffe wie «falschverstandene Humanität», «biologische Volksgrundlagen», «Gesundung des Volkskörpers» und «Eindämmung ungesunden Lebens» bei Etter nirgends vor. In der von ihm verantworteten Kulturpolitik stand Etter der modernen Kunst offen gegenüber und förderte als Bolschewisten verschriene Künstler wie Heinrich Danioth. Schon 1945 forderte er im Nationalrat den «Ausbruch aus der geistigen und kulturellen Réduit-Stellung» (S. 18 und 670).

Dass Zauggs quellenbasierte Neubetrachtung der Person Etters und seines politischen Wirkens nicht überall auf Zustimmung stossen würde, war vorauszusehen. Zwar gab es eine Reihe von positiven Besprechungen.2 Aber auch die Kritiker Etters meldeten sich zu Wort. Relativ moderat argumentierte anfänglich Georg Kreis, der noch 1995 in einem Aufsatz Etter die Absicht unterstellt hatte, «die Schweiz weit hinter die Grundsätze der modernen Demokratie zurückzubuchstabieren».3 Unter dem Titel «Wandlungen eines autoritären Staatsmanns» folgte er in seiner NZZ-Rezension aber Zauggs Interpretation von Etter als einem anpassungsfähigen Politiker, warf dem Autor aber «entproblematisierende Deutungen» vor. «Besonders überzeugend» fand Kreis Zauggs Widerlegung des Vorwurfs, Etter habe eugenische Massnahmen gegen «ungesundes» Leben befürwortet. Scharf gingen hingegen Jo Lang und Jakob Tanner in der WoZ mit der Etter-Biografie ins Gericht. Jo Lang wiederholte seine bereits seit den 1990er Jahren bekannte Disqualifizierung Etters als Vertreter eines antimodernistischen, antiliberalen, antisemitischen und antisozialistischen Katholizismus.4 Jakob Tanner ereiferte sich zuerst über den «geschichtsrevisionistischen Sumpf» von Holocaustleugnern und -verharmlosern im Ausland, verwies dann auf die anders gearteten rechtsnationalen Geschichtsrevisionisten in der Schweiz, um dann exemplarisch Zauggs Etter-Biografie als Versuch einer «solchen Geschichtsverdrängung und der Umdeutung individueller Lebenswege» und gar als «revisionistische Umdeutung» zu disqualifizieren. Er bedauerte, dass die Dissertation «unter dem Radar des Forschungsstands durchfliegen und akademische Qualifikationsziele erreichen» konnte. Damit attackierte Tanner in erster Linie die beiden Doktorväter Tobias Straumann und Matthieu Leimgruber sowie die Philosophische Fakultät der Universität Zürich, welche die Arbeit immerhin mit dem Prädikat «summa cum laude» auszeichnete. 5

Zaugg wehrte sich und konterte die von Lang und Tanner vorgebrachten Vorwürfen im «Schweizer Monat», indem er ihnen Falschzitate, Verkürzungen seiner Thesen und von Aussagen Etters sowie die Ignorierung neu aufgefundener Quellen vorwarf. Allgemein kritisierte er das «Muster», unliebsame neue Forschungsergebnisse als unwissenschaftlich zu disqualifizieren.6 In der Presse wurde dann aber auch rasch Kritik an der Kritik laut.7 Im Frühjahr 2021 flammte die Polemik nochmals kurz auf, zuerst durch die eher negative Rezension von Patrick Kury in «H-Soz-Kult» (9. März) und dann in der Web-Zeitung «Journal21» mit den gleichen Kontrahenten und gleichen Argumenten wie im Vorjahr. Wie Tanner hielt jetzt auch Kreis fest, dass die Arbeit von Zaugg «den Anforderungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung wenig entspricht».8 Den (vorläufigen) Abschluss der Debatte setzte Rico Bandle am 28. April 2021 in der Sonntagszeitung mit einem Artikel, in dem der Hauptgutachter Tobias Straumann Zauggs Dissertation als «herausragende Arbeit» beurteilte und die Kritik als «einseitig und unpräzis» zurückwies. Bandle brachte die Debatte schliesslich auf den Punkt: «Es geht um die Deutungshoheit über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg», welche die beiden «mittlerweile pensionierten Historiker» bis anhin innehatten.

Anmekrung:
1 Thomas Zaugg, Der Privatnachlass von Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Bestandesgeschichte, Inhaltsbeschreibung, Forschungsperspektiven, in: Tugium 34 (2018), S. 79–89.
2 Zuger Presse, 2. Juni 2020; Luzerner Zeitung, 14. Juni 2020; Michael Kitzing, Philipp Etter, in: Informationsmittel für Bibliotheken, www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php? id=10255 (28. 1. 2021).
3 Georg Kreis, Philipp Etter – «voll auf eidgenössischem Boden», in: Aram Mattioli (Hg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918–1939. Zürich 1995, S. 201–217, hier S. 214; ders., Wandlungen eines autoritären Staatsmanns, in: NZZ, 27. 3. 2020.
4 Josef Lang, Hilfe für die stärkste Armee, in: WoZ Die Wochenzeitung, 14. 3. 2020.
5 Jakob Tanner, «Auch in der Schweiz wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt – und aus diesem tönt es dann genau so glorreich heraus, wie man hineinruft», in: WoZ Die Wochenzeitung, 4. 6. 2020.
6 Thomas Zaugg, Der Revisionsvorwurf beendet die Geschichtsschreibung, in: Schweizer Monat, Juli 2020, https://schweizermonat.ch/der-revisionismusvorwurf-beendet-die-geschichtsschreibung (28. 1. 2021).
7 Marco Morosoli, Über den Zuger Langzeitbundesrat Philipp Etter scheiden sich die Geister, in: Luzerner Zeitung, 25. 8.2020; Rolf App, Umkämpfte Geschichte, in: Kulturtipp, Nr. 1 (2021), S. 32.
8 Journal21.ch, 8.4., 11.4. 2021.

Zitierweise:
Jorio, Marco: Rezension zu: Zaugg, Thomas: Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Eine politische Biografie, Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 546-549. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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