Titel
Hitler. Eine globale Biographie


Autor(en)
Simms, Brendan
Erschienen
München 2020: Deutsche Verlags-Anstalt
Anzahl Seiten
1056 S.
von
Bernd Wegner, Seminar für Geschichtswissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Seit einigen Jahrzehnten ist verstärkt eine Neigung von Verlagen zu beobachten, ihre Bücher in immer schrillerer Weise anzukündigen. Auf dem rigoros durchkommerzialisierten englischsprachigen Buchmarkt hat diese unselige Neigung selbst den mit seriösem wissenschaftlichem Anspruch einhergehenden Sachbuchbereich, und hier insbesondere Veröffentlichungen zur neueren Geschichte längst erfasst. Besonders hart umkämpft ist dabei die Aufmerksamkeit potentieller Käufer bei jenen Themen, die englische Buchhandlungen bis heute überschwemmen: Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus, Hitler. Nicht selten verhält es sich offenbar so, dass Autoren als Erstes nach einer möglichst steilen These suchen, um diese anschliessend dann um jeden Preis zu «beweisen». Das widerspricht zwar dem Prinzip guter wissenschaftlicher Praxis, kommt aber dem Verlag gelegen und fördert den Umsatz.

Natürlich wäre es unfair, Brendan Simms, einem renommierten, in Cambridge lehrenden Historiker ein wissenschaftlich derart fragwürdiges Motiv zu unterstellen. Leider nur leisten Aufmachung und Tenor seines Werkes eben dem Eindruck Vorschub, dass auch er der Versuchung womöglich nicht ganz zu widerstehen vermochte: «Viele der wichtigsten Dinge, die wir über Adolf Hitler zu wissen glauben, sind falsch.» Wer immer mit «wir» gemeint sein mag – eine solche Verlagsankündigung lässt alle Alarmglocken läuten. Sollten sich etwa alle bedeutenden Hitler-Biografen von Fest und Kershaw über Longerich und Pyta bis unlängst erst zu Thamer und Volker Ullrich wirklich so fundamental in der Interpretation des deutschen Diktators geirrt haben? In der Tat stellt Simms, zur Geschichte des Nationalsozialismus bislang wenig ausgewiesen, drei grosse, miteinander verknüpfte und angeblich neue Behauptungen auf, deren Tragfähigkeit uns zwingen würde, «Hitlers Biographie und vielleicht die Geschichte des ‹Dritten Reichs› insgesamt grundsätzlich neu» zu überdenken (S. 15 f.). Deren wichtigste ist die das Buch wie ein roter Faden durchziehende These, wonach «Hitlers Hauptaugenmerk während seiner gesamten Laufbahn nicht der Sowjetunion und dem Bolschewismus galt, sondern Anglo-Amerika und dem globalen Kapitalismus». Zweitens sei «seine Haltung zum deutschen Volk […] stets von einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den ‹Angelsachsen› bestimmt» gewesen. Und drittens schliesslich sei in der bisherigen, ganz auf die Shoah konzentrierten Forschung Hitlers «positive Eugenik» vernachlässigt worden, «die dazu dienen sollte, das deutsche Volk auf das Niveau seiner britischen und amerikanischen Rivalen zu heben.» (ebd.)

Alle hier angesprochenen Aspekte sind in der bisherigen Forschung zum Teil eingehend behandelt worden. Wir wissen längst, dass Hitler Grossbritannien sowie in mancher Hinsicht auch die USA bewunderte. Auch dass für ihn ‹der Jude› die rassistische Chiffre nicht nur für den ‹Bolschewismus›, sondern auch für die kapitalistische ‹Plutokratie› war, ist längst bekannt. Sicher könnte man darüber streiten, ob einige interpretatorische Akzente nicht anders gesetzt werden könnten. Aber Simms geht es um viel mehr als das: Er möchte das ganze tradierte Hitlerbild vom Kopf auf die Füsse stellen. Tatsächlich aber stellt er es von den Füssen auf den Kopf. Und das gelingt ihm nur durch eine konsequent selektive Auswahl seiner Belege und eine stete Über- oder Fehlinterpretation von Quellen und Literatur. Liest man zum Beispiel was Simms über Hitlers «Mein Kampf» und sein sogenanntes «Zweites Buch» zu sagen hat, so könnte man glauben, es handele sich hier vor allem um Programmschriften wider den anglo-amerikanischen Kapitalismus. Dies aber ist nachweislich Unsinn, auch wenn v. a. beim jungen Hitler stets ein kapitalismuskritischer Ton mitschwingt. Von der gleichen grandiosen Einseitigkeit ist auch seine Auffassung, dass die Gründe für ‹Barbarossa› «mehr mit Anglo-Amerika zu hatten als mit der Sowjetunion» (S. 629), ja dass selbst die Shoah vor allem als Schlag gegen die USA gedacht gewesen sei.

Um seine Grundthese durchhalten zu können, bedient sich der Verfasser immer wieder einer geradezu abenteuerlichen ‹Beweisführung›. Hier nur eine Kostprobe: Mit dem Kampf um Stalingrad verfolgte Hitler, wie eine Fülle von Quellen belegt, eine Reihe von operativen und strategischen, kriegswirtschaftlichen und logistischen Zielen, von denen Simms auch etliche erwähnt. Besonders angetan hat es dem Autor aber eine spezielle Bemerkung Hitlers anlässlich eines seiner täglichen Tischgespräche. Als dabei am 2. September 1942 die Rede auf Churchill kommt, äussert Hitler beiläufig die vage Vermutung, «dass Churchill nach irgendeinem Ereignis, zum Beispiel dem Fall von Stalingrad, genau das Gegenteil von dem tut, was er bisher getan hat. 1 Simms gibt diesen Satz wie folgt wieder: «Wenn die Stadt falle, bemerkte [Hitler] gegenüber seinem Gefolge, würde vielleicht auch Churchill stürzen oder wenigstens geneigter sein, Frieden zu schliessen.» (S. 723). An diesen einzigen, zudem unkorrekt paraphrasierten Beleg knüpft der Autor dann seine gravierende Schlussfolgerung: «Kurz, der Angriff auf Stalingrad war wie der ganze Krieg in erster Linie ein Kampfmittel im Wettstreit mit Anglo-Amerika» (ebd.). Konsequenterweise ist für den Autor denn auch die deutsche Kapitulation in Tunis im Mai 1943 «eine weit grössere Katastrophe als die Kapitulation in Stalingrad (wo es, nebenbei bemerkt, zu einer formellen «Kapitulation» gar nicht kam) (S. 746). Offenbar hat der Verfasser die Dimension des Ostkrieges im Vergleich zum Nebenkriegsschauplatz Nordafrika nicht wirklich verstanden. Anders jedenfalls ist schwer erklärlich, dass er dem deutschen Diktator selbst für das Frühjahr 1943 noch «eine kohärente Strategie» unterstellt, «um den Sieg zu erzielen oder wenigstens ein zufriedenstellendes Remis zu erzwingen» (S. 742). Daran dürfte Hitler nicht einmal selbst geglaubt haben.

Man mag zugunsten des Buches geltend machen, dass eine These nicht unbedingt richtig sein muss, um fruchtbar sein zu können. Dass aber das vorliegende Werk eine nachhaltige Kontroverse auslösen könnte, erscheint angesichts seiner methodischen Unsauberkeiten eher unwahrscheinlich. Das ist insofern bedauerlich, als Simms durchaus eine Fülle von Detaileinsichten zu bieten hat, die bislang wenig bekannt oder aber im Mainstream der Hitler-Literatur untergegangen waren. Insofern mag er mit seinem Werk all jene, die – wie auch der Rezensent – seinen Thesen nicht zu folgen vermögen, zumindest nötigen, noch sorgfältiger zu argumentieren und manch allzu Selbstverständliches vielleicht doch noch einmal auf den Prüfstand zu stellen.

Anmekrung:
1 Werner Jochmann (Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier, Hamburg 1980, S. 383.

Zitierweise:
Wegner, Bernd: Rezension zu: Simms, Brendan: Hitler. Eine globale Biographie, München 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 544-546. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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