P.-P. Bänziger: Moderne als Erlebnis

Cover
Titel
Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940


Autor(en)
Bänziger, Peter-Paul
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 34,90
von
Maurice Cottier, Historisches Institut, Universität Bern

«Sie wollten erleben, nicht nach Höherem streben» (S. 385). So fasst Peter-Paul Bänziger seine Befunde zur modernen Subjektkultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägnant zusammen. Mit «sie» sind junge Autorinnen und Autoren von Tagebüchern aus der Zeit nach 1900 gemeint. Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente wie Briefe, Verhörprotokolle oder eben Tagebücher haben sich in den letzten Jahrzehnten als äusserst ergiebige Quelle der Kulturgeschichte erwiesen. Während das Hauptaugenmerk der Forschung auf der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert liegt, ist das frühe 20. Jahrhundert bisher wenig erforscht. Diese Lücke zu verkleinern, hilft die gründlich recherchierte und elegant verfasste Studie, die auf einer 2018 an der Universität Basel eingereichten Habilitationsschrift beruht.

Inspiriert von Andreas Reckwitz Arbeiten zur neuzeitlichen Subjektivität arbeitet Bänziger anhand von 110 Tagebüchern von jungen Männern und Frauen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum heraus, wie sich die «Selbstverhältnisse» (S. 14) in der longue durée zwischen 1840 und 1940 veränderten. Der Fokus auf die Diarist:innen unter dreissig Jahren ist in erster Linie pragmatisch bedingt, weil junge Menschen zu den fleissigsten Tagebuchschreiber:innen gehörten. Ein Beitrag zu Geschichte der Jugend strebt der Autor allerdings nicht an.

Bänziger geht es in erster Linie darum, anhand der Tagebücher des frühen 20. Jahrhunderts die «erlebnisorientierte Subjektkultur» (S. 17) herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck geht er nach einer vorbildlich verfassten Einleitung in den ersten drei Kapiteln ausführlich auf verschiedene Subjektkulturen des 19. Jahrhunderts ein, von denen sich die «Erlebnisorientierung» (S. 17) nach 1900 unterschied. Trotz der eher ungünstigen Quellenlage, ist Bänziger bemüht, auch Handwerker, Arbeiter:innen sowie Dienstbotinnen zu Wort kommen zu lassen. Insgesamt dominieren jedoch Zeugnisse bürgerlicher Akteur:innen, die sich selbst im Spiegel der Tugenden von Arbeitsamkeit und Mässigung reflektieren. Richtungsweisend für Bänziger ist in diesem Zusammenhang das Konzept des «bürgerliche[ n] Wertehimmel[s]» von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann.1

Richtig Fahrt nimmt die Studie in Kapitel IV auf, das die Rahmenbedingungen der modernen Konsum- und Arbeitsgesellschaft rekonstruiert. Überzeugend plädiert Bänziger dafür, dass stets die Veränderungen in der Produktion und in der Konsumation sowie in der Arbeits- und der Freizeit berücksichtigt werden müssen. Nur so lasse sich die Genese der erlebnisorientierten Subjektkultur adäquat fassen. Die Sterne am neuen Wertehimmel waren die Nation, der (Gross-)Betrieb und die (Klein‐)Familie. In diesen Institutionen und Imaginationen war die neue Subjektkultur aufgehoben. Bänziger ist es ein grosses Anliegen darzulegen, dass diese neue Konstellation nicht nur eine Folge oder Weiterentwicklung bürgerlicher Praktiken und Wertvorstellungen war. In Anlehnung an die Thesen von Jan de Vries und Rudolf Braun insistiert er, dass die Konsumwünsche der vermehrt mit Kaufkraft ausgestatteten ‹kleinen› Leute nicht einfach als Nachahmung des bürgerlichen Geschmacks verstanden werden dürfen. Vielmehr gründeten diese zumindest teilweise auf durchaus eigenständigen ästhetischen und moralischen Vorstellungen, auf die die Fabrikanten und Anbieter von Waren und Dienstleistungen zu reagieren wussten. Tendenziell war die Moderne nach 1900 in Bezug auf die Schicht- und Klassenzugehörigkeit weit weniger exklusiv als die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Wenn es dennoch eine idealtypische Gruppe gab, dann waren es die Angestellten, die in mittelgrossen oder Grossstädten lebten.

Kapitel V beinhaltet den innovativen Kern der Studie. Insbesondere die Abhandlungen zu den Tagebüchern eines Kartografen und einer Tänzerin geben faszinierende Einblicke in die kulturelle Praxis des Erlebens im Berlin der Jahrhundertwende. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Diarist:innen des 19. Jahrhunderts, strebten diese Tagebuchschreibenden nicht mehr danach, etwas Besonderes zu werden, sondern möglichst viele aufregende Varieté-Abende, Sportveranstaltungen oder Ferien zu erleben. Auch die Arbeit sollte in erster Linie Spass bringen und Freude bereiten.

Die Erlebnisorientiertheit drückte sich auch in der Medialität des Tagebuchs aus, wie Bänziger souverän und gewinnbringend in Kapitel VI aufzeigt. Während im bürgerlichen Tagebuch der vom Bildungsroman beeinflusste biografische Stil vorherrschte, diente das «Erlebnistagebuch» (S. 375) in erster Linie dem expressionistischen Festhalten individueller Erlebnisse in der Arbeits- und Freizeit.

Bänzigers Konzepte der erlebnisorientierte Subjektkultur und des Erlebnistagebuchs überzeugen und werden die künftigen Forschungen, die sich für das Handeln, Denken und Fühlen der Menschen in der Moderne interessieren, mit Sicherheit beeinflussen und befruchten. Einzig der Ausarbeitung der neuen Subjektkultur hätte mehr Platz eingeräumt werden können. Die umfangreichen Abhandlungen zum 19. Jahrhundert, die grösstenteils den Forschungsstand stützen und nur punktuell Ergänzungen und Korrekturen liefern, hätten zudem komprimiert werden können. Eine stärkere Fokussierung auf die Tagebücher nach 1900 hätte es wohl ermöglicht, weitere Facetten der erlebnisorientierter Subjektivität genauer zu beleuchten. So etwa die Wahrnehmung und Abhandlung von Krieg, Nationalismus und Nationalsozialismus, die erst im Schlusswort und eher ausweichend angesprochen werden. Gerade weil Bänziger die Nation als wichtigen Eckpunkt der neuen Arbeits- und Konsumgesellschaft nach 1900 hervorhebt, wäre eine intensiviere Auseinandersetzung mit dieser Thematik naheliegend. Ebenfalls interessant wäre es zu erfahren, wie einschneidende Lebensereignisse wie Liebesbeziehungen, Eheschliessungen, Scheidungen oder berufliche Auf- oder Abstiege in den Ereignistagebüchern dokumentiert wurden. Griffen die Diarist:innen hierfür auf ältere bürgerliche Skripts zurück oder entwarfen Sie auch hierfür neue – möglicherweise hybride – Erzählmodi? Diese Einwände und Fragen belegen aber im Grunde nur den anregenden Charakter der vorliegenden Studie, deren Lektüre sehr zu empfehlen ist.

Anmekrung:
1 Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichtendes 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.

Zitierweise:
Cottier, Maurice: Rezension zu: Bänziger, Peter-Paul: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 541-543. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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