C. Dejung u.a. (Hg.): The Global Bourgeoisie

Titel
The Global Bourgeoisie: The Rise of the Middle Class in the Age of Empire.


Herausgeber
Dejung, Christof; Motadel, David; Osterhammel, Jürgen
Erschienen
Princeton 2019: Princeton University Press
Anzahl Seiten
396 S.
von
Harald Fischer-Tiné, Lehrstuhl für die Geschichte der Modernen Welt, ETH-Zürich/D-GESS, HG E 12

Die historische Bürgertumsforschung dürften die meisten SZG-Leser:innen wohl mit der deutschen Geschichtswissenschaft assoziieren. In der Bundesrepublik hat sie in den 1980er und 1990er Jahren nicht zuletzt durch die Interventionen von Granden der historischen Zunft, wie Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Lothar Gall, eine sehr dominante Rolle gespielt. Vor knapp 15 Jahren war es mit Margrit Pernau wiederum eine deutsche Historikerin, die eine radikale Erweiterung dieser Debatten durch das konsequente Einbeziehen von transnationalen, globalen und ‹New Imperial History›-Perspektiven postuliert hat. Globalhistoriker:innen, so ihr provokantes Statement, müssten Konzepte wie «Bürgertum» auch für Gesellschaften ausserhalb des Westens fruchtbar machen. Während Pernau ihrem eigenen Appell in einer methodisch originellen aber geographisch sehr begrenzten Fallstudie nachgekommen ist, haben Christof Dejung, David Motadel und Jürgen Osterhammel nun einen viel breiteren Zugriff gewählt, um die nach wie vor zu beobachtende Fixierung der Bürgertumsforschung auf Mitteleuropa zu überwinden.

In dem 380 Seiten starken Sammelband untersuchen fünfzehn Beiträge die Entwicklung bürgerlicher Gesellschaftsformationen in Asien, Afrika, dem Mittleren Osten, der Karibik und den Amerikas im langen 19. Jahrhundert. Wenn dabei auch das Hauptaugenmerk insgesamt klar auf dem Vergleich verschiedener Fallstudien liegt, rücken aber immer wieder auch die Verflechtungen zwischen diesen Partikularentwicklungen und überwölbende Aspekte in den Blick. Die exzellente Einleitung (S. 1–39) situiert die Kapitel in der Forschungsliteratur und adressiert ein zentrales Problem des Unterfangens: die konzeptionelle Uneindeutigkeit des Bürgertumsbegriffs. Sind bereits in europäischen Kontexten Begriffe wie «Bourgeoisie» und «Mittelschicht» sehr unterschiedlich besetzt, so wird das zu beackernde semantische Feld durch die Konnotationen der in den jeweiligen Regionalsprachen verwendeten Termini noch sehr viel breiter. Dennoch, so das Herausgeberkollektiv, sei es wichtig, den globalen Vergleich zu wagen: Nur auf diese Art, könne eine exotisierende Abwertung bzw. Nichtbeachtung aussereuropäischer Gesellschaften verhindert werden (S. 14 f.).

Die folgenden 15 Kapitel des Bandes sind in sechs nicht immer ganz trennscharf voneinander abgesetzte Sektionen gegliedert. Der erste Teil widmet sich der Rolle des Staates bei der Formierung einer bürgerlichen Schicht. Diese konnte sehr unterschiedlich ausfallen, wie die beiden Kapitel zum Iran (H.E. Chehabi) und den USA (M. Gräser) belegen: Während im ersteren Fall drastische Modernisierungsmassnahmen ‹von oben› den Aufstieg der Mittelschicht befeuerten, waren es im Zweiten Vertreter der «great middle-class», die zum Teil Aufgaben wie Wohlfahrt und Sozialfürsorge für einen schwachen Staat mitübernahmen. Staatliche Handlungsmacht steht klar im Mittelpunkt des Beitrags von Alison Bashford, in dem sie die regionalübergreifend zu beobachtende Bedeutung von Familienplanung und deren staatliche Regulierung für die middling sorts hervorhebt.

Der nächste Abschnitt untersucht den Einfluss von kolonialer Herrschaft auf die Herausbildung einer Mittelschicht anhand von drei Fallstudien zu Swahili-Zeitungen und Lesekulturen in Ostafrika (E. Hunter), der Einführung von bürokratischen Managementpraktiken in der karibischen Plantagenwirtschaft (P.X. Scanlan) und der Entstehung einer ‹hybriden› kulinarischen Kultur in Bengalen (U. Ray). Der letztgenannte Beitrag ist insofern von besonderem Interesse, als die Änderung des Konsumverhaltens noch heute ein zentrales Element bürgerlicher Selbststilisierung und Selbstvergewisserung darstellt. Am Beispiel veränderter Ernährungspraktiken der Kalkuttaner Mittelklasse gelingt es Ray zudem aufzuzeigen, dass die Orientierung an westlichen Vorbildern nur sehr selten in der vollständigen Übernahme von Praktiken der bürgerlichen Referenzgruppen in Europa mündete. Es ging den sozialen Aufsteigern vielmehr darum, die anverwandelten Elemente zu ‹authentischen› Bestandteilen der bengalischen Küchentradition zu deklarieren (S. 133–135).

Die nächsten beiden Beiträge sind der dritten Sektion Capitalism and Class zugeordnet. Janet Hunter zeigt in ihrem Kapitel über den Aufstieg der japanischen Mittelschicht eindrücklich die heterogene Zusammensetzung dieser Gruppe. Neben den neuen urban professionals, die sich zunehmend an westlichen Wertekanon und Konsumverhalten zu orientieren begannen, existierte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine überwiegend ländliche und kleinstädtische Mittelschicht, die sich betont wertkonservativ und traditionell gab (S. 171–181).

Kris Manjapras Beitrag zu middle-class service professionals in den Diensten des imperialen Kapitalismus spannt sowohl zeitlich als auch räumlich einen sehr weiten Bogen. In Bezugnahme auf Wallersteins Konzept der Semiperipherie – das Manjapra jedoch nicht räumlich, sondern funktional verstanden wissen will (S. 187) –, skizziert der Bostoner Historiker die neue mittelständische Formation von Wissenschaftlern, Medizinern, Ingenieuren, Juristen, Logistikexperten, Übersetzern, usw., welche Erschliessung, Verwaltung und Ausbeutung kolonialer Territorien überhaupt erst ermöglichten. Die Flughöhe, die er dabei einnimmt, generiert zwar gelegentlich überraschende Einsichten, aber die fehlende regionale und soziale Differenzierung hinterlässt auch viele offene Fragen. Wie gross waren die betreffenden Gruppen zu welcher Zeit und in welchem Raum? Ist es sinnvoll, etwa ein halbes Dutzend deutsche Forstbeamte mit Tausenden britischen Medizinern in den Diensten der kolonialen medical services des Britischen Weltreichs und zehntausenden Bramahnen und Kayasthas, die sich als Schreiber in der britisch-indischen Kolonialverwaltung verdingten, gleichzusetzen? Welche Rolle spielten rassistische und religiöse Hierarchien und Vorurteile in diesem äusserst heterogenen «multiethnic corps of knowledge professionals» (S. 204)?

Die Bedeutung von Religion und Philanthropie steht im Zentrum des darauffolgenden vierten Abschnitts. Während Adam Mestyans Beitrag zum spätosmanischen Reich demonstriert, dass wohltätige Vereine nicht nur im Westen eine wichtige Plattform bei der Konstituierung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft darstellten, liefert David Motadels Kapitel eine überzeugende Mikrostudie der islamischen Glaubensgemeinschaft im Berlin der Zwischenkriegszeit. Anders als heute, war die muslimische Gemeinde an der Spree in den 1920er und 1930er Jahren zwar ethnisch divers, aber dafür sozial äusserst homogen. Der hohe Bildungsstandard und das Beherrschen der sozialen Codes der deutschen Bourgeoisie erklären die unproblematische Integration der islamischen Diaspora in die Berliner Gesellschaft (S. 250). Christof Dejungs gelungener Beitrag adressiert einen wichtigen Aspekt des bourgeoisen self-fashioning, der in den anderen Kapiteln kaum zur Sprache kommt: die diskursiven Überlappungen bei der Beschreibung von heimischen Unterschichten und überseeischen kolonialer Untertanen. Politiker, Sozialreformer und Philanthropen setzten beide Gruppen häufig gleich, um deren vermeintliche Defizite bzw. ihren Abstand zu den eigenen Wertvorstellungen zu illustrieren. Es gibt zwar bereits eine ganze Reihe von Studien, die den Zusammenhang von internen und externen Zivilisierungsmissionen im Zeitalter des Imperialismus thematisiert haben, aber Dejung gelingt es, eine neue Facette hinzuzufügen, indem er zeigt, dass diese diskursive Strategie nicht nur bei den Imperialmächten praktiziert wurde, sondern auch in Ländern ohne Kolonien wie der Schweiz zum Tragen kam (S. 268–270).

Besonders instruktiv ist die fünfte Sektion des Bandes, die Fälle untersucht, bei denen die Etablierung einer Mittelschicht entgegen dem globalen Verbürgerlichungstrend gar nicht, oder nur teilweise funktionierte. David S. Parkers Kapitel zeigt, dass viele Intellektuelle der ganz auf Paris und London fixierten Bourgeoisie in Peru, Chile und Argentinien ihre eigene Entwicklung als defizitär und rückständig erachteten (S. 276–279), weil sie nicht exakt den westeuropäischen Vorbildern entsprach. Im zaristischen Russland wurde horizontale Solidaritätsstiftung einer bürgerlichen Schicht dagegen durch die komplizierten Standeseinteilungen erschwert. Wie Alison Smith in ihrem Beitrag auseinandersetzt, beförderte dies lange eine Fragmentierung der russischen middling sorts (S. 299–305). Dass sich eine synchrone Geschichte des globalen Aufstiegs der Mittelklasse nicht schreiben lässt, zeigen auch Jürgen Osterhammel und Sabine Dabringhaus in ihrem erhellenden Kapitel zu China. Dort gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert Ansätze zur Entstehung einer bürgerlichen Schicht im Milieu der compradors, die als Händler oder Mittelsmänner am Geschäft mit westlichen Mächten beteiligt waren. Diese Entwicklung wurde aber durch die japanische Besatzung und vor allem durch Zwangskollektivierungsmassnahmen unter Mao erstickt. Die Mittelklasse, die sich schliesslich ab den 1990er Jahren zu etablieren begann, entstand somit gleichsam aus einem Vakuum und hatte keinerlei Verbindung mehr zur den proto-bourgeoisen Formationen im frühen 20. Jahrhundert.

Der herausragende Beitrag von Richard Drayton, mit dem das Buch endet, zieht gleichsam die Bilanz aus den vorangegangenen Fallstudien. Sprachlich und argumentativ brillant versucht Drayton noch einmal das Potential einer globalen Sozialgeschichtsschreibung auszuloten, indem er eine Generaltheorie der weltweiten Verbürgerlichung im Zeitalter des Imperialismus formuliert. Er erklärt überzeugend, warum das westliche Bürgertumsmodell an der «globalen Statusbörse» so hoch im Kurs stand (S. 354), warnt aber gleichzeitig auch vor einer reduktionistischen Fixierung auf Status und Klasse. Gerade im Kontext einer imperial geprägten Weltordnung sei es für die Vertreter:innen einer neuen ‹globalen Sozialgeschichte› wichtig, von der Geschlechtergeschichte zu lernen und die Intersektionalität verschiedener Differenzkategorien im Blick zu behalten (S. 348f.). Wenn die werbewirksamen blurbs auf dem Buchcover mit ihrer Einstufung des Sammelbandes als «Meilenstein» vielleicht auch etwas übers Ziel hinausschiessen, so besteht kein Zweifel, dass The Global Bourgeoisie ein hervorragendes Buch ist, das sich wohltuend aus der Masse hastig zusammengezimmerter Konferenzbände abhebt. Die Herausgeber und der Autor des Quasi-Nachwortes, Richard Drayton, haben mit ihrer Einbettung in die historiographische Meta-Ebene hervorragende Arbeit geleistet. Und die allermeisten Autor:innen bemühen sich erfolgreich, Bezüge zu deren übergreifenden Fragestellungen und vorgegebenen Analysekategorien herzustellen. Wenn dennoch eine leichte Spannung zwischen empirisch reichen Beiträgen, die eher aus einer Regionalperspektive geschrieben wurden, und solchen, die eine globale Vogelperspektive wählen, bestehen bleibt, so schmälert dies das Verdienst dieses empfehlenswerten Bandes keineswegs. Im Gegenteil: Eine Intensivierung des hier initiierten Dialoges zwischen diesen beiden Gruppen bleibt grundlegende Voraussetzung für den Erfolg des Projektes einer global social history.

Zitierweise:
Fischer-Tiné, Harald: Rezension zu: Dejung, Christof; Motadel, David; Osterhammel, Jürgen (Hg.): The Global Bourgeoisie. The Rise of the Middle Classes in the Age of Empire, Princeton 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 531-534. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.