C. Goehrke: Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod

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Titel
Unter dem Schirm der göttlichen Weisheit. Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod


Autor(en)
Goehrke, Carsten
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
559 S.
von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Carsten Goehrke war von 1971 bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Nach seiner Emeritierung hat er grundlegende Werke zur
Geschichte Russlands veröffentlicht: «Russischer Alltag» (3 Bde., 2003–2005), «Russland. Eine Strukturgeschichte» (2010) und «Lebenswelten Sibiriens. Aus Natur und Geschichte des Jenissei-Stromlandes» (2016). Diese Bücher haben nicht nur Lehre und Forschung des Faches intensiv beeinflusst, sondern überhaupt die Kenntnis Russlands in der Öffentlichkeit wesentlich erweitert. Dass der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung seit einiger Zeit derartige Publikationen emeritierter Hochschullehrer nicht mehr unterstützt, erweist sich angesichts der überragenden Forschungsleistungen Goehrkes als offensichtliche Fehlentscheidung. Auch der Druck seines neuesten Werkes musste aus privaten Mitteln finanziert werden.

Mit seiner Studie zu Geschichte und Lebenswelten Gross-Nowgorods kehrte Goehrke zu seinen wissenschaftlichen Anfängen zurück: Als frisch gebackener Assistent hatte er 1963/64 einen Vortrag zur Sozialstruktur des mittelalterlichen Nowgorods erarbeitet, der 1966 publiziert wurde. Seitdem hat die Forschung neue Quellen erschlossen und unterschiedliche Interpretationen vorgelegt. Darauf geht Goehrke im ersten Teil seiner Arbeit ein. Neben schriftlichen Quellen sind insbesondere die Birkenbasttexte erwähnenswert, von denen bis jetzt allein in Nowgorod rund 1200 für die Zeit vom 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts gefunden und entziffert worden sind. «Eine vergleichbare Alltagsschriftlichkeit dieses Umfanges kennen wir aus Lateineuropa zumindest für das hohe Mittelalter nicht» (S. 22), stellt der Autor deshalb fest. Hinzu kommen archäologische Ausgrabungen, die wesentliche Hinweise geben.

Goehrke schreibt die Geschichte des Nowgoroder Landes von den Anfängen bis zum Ende der Selbstständigkeit 1478, mit einem Ausblick bis in die Gegenwart. Behandelt werden Siedlungswesen, soziale Schichtung, wirtschaftliche Tätigkeit, Verwaltungsstruktur, Innen- und Aussenpolitik, Kirche und Kultur sowie Alltagsleben. Detailliert zeichnet Goehrke nach, wie sich vor allem über den Handel die ökonomische Machtgrundlage des Nowgoroder Herrschaftsgebietes im Rahmen der Fürstentümer der Rus herausbildete. Aus dem ersten Aufstand der Nowgoroder gegen ihren Fürsten 1096 entwickelten sich, begleitet von einem wachsenden Selbstbewusstsein der Bevölkerung, über eine Doppelherrschaft von gewähltem Bürgermeister und Fürst sowie über weitere Wahlämter kollektive Institutionen (Hundertschaften von Kaufleuten und Gewerbetreibenden, Stadtquartiere), von denen die Volksversammlung, das Wetsche, das grundlegende Verfassungsorgan wurde. Dieses bestimmte über entscheidende politische Fragen und wählte nicht nur die städtischen Amtspersonen, sondern auch den Fürsten und den Erzbischof, der neben geistlicher zugleich weltliche Macht besass. Der «Stadtstaat» Nowgorod, wie ihn Goehrke benennt (S. 5, 401 und öfter), gestaltete sich bis zum 13. Jahrhundert als eine «Form archaischer, urwüchsiger Demokratie, in die der Fürst eingebunden war» (S. 228). Kern des Selbstverständnisses «bildete die in der Sophienkathedrale Stein gewordene ‹Weisheit Gottes›» (S. 275). Die Heilige Sophia wurde als die allumfassende Weisheit Gottes verstanden, die sich in Maria und Jesus verkörpere und Nowgorod beschützen werde.

In der Folgezeit gestaltete sich diese Ordnung weiter aus. Die orthodoxe Kirche musste sich dabei mit einer häretischen Bewegung auseinandersetzen, welche die Priester für unwürdig hielt und «das Leben nach dem Evangelium ausrichten wollte» (S. 293). Dies hatte nicht zuletzt mit der Formierung einer differenzierten sozialen Schichtung im 13. und 14. Jahrhundert zu tun, die sich zusehends hierarchisierte und polarisierte. Die Elite schottete sich mehr und mehr von den Unterschichten ab. Es kam im 14. und frühen 15. Jahrhundert zu einer «Oligarchisierung des politischen Apparats» (S. 264) durch die verschiedenen Clans der Grossgrundbesitzer. Das Wetsche blieb zwar oberstes Entscheidungsorgan und wurde geradezu gleichgesetzt mit dem Stadtstaat selbst. Doch die herrschenden Familien waren immer weniger auf «die frühere allgemeine Konsensfindung» aus, sondern versuchten, das auf dem Wetsche anwesende «Volk» zu manipulieren und instrumentalisieren. Damit legten sie die «Axt an die Wurzeln des Stadtstaates» (S. 243). Dieser war zu einem «Konglomerat von Monarchie, Demokratie, Oligarchie und Theokratie» geworden (S. 401).

Während der Handel noch einmal aufblühte, vermehrten sich im 15. Jahrhundert die «Anzeichen des Niedergangs» (S. 335). Aufstände und Kämpfe zwischen den Stadtquartieren sowie Korruptionsvorwürfe verstärkten die sozialen Gegensätze. Die aussenpolitische Lage gegenüber den umliegenden Mächten verschlechterte sich. Unter diesem Druck spaltete sich die Stadt darüber, ob man sich mehr dem Grossfürstentum Litauen oder dem Grossfürstentum Moskau zuneigen sollte. Als sich der Konflikt mit Moskau verschärfte, war die Elite bereit, das Wetsche zu opfern, während die Unterschicht der Freien seine entschiedensten Verfechter blieben. In dieser Situation war der «Herr und Herrscher Gross-Nowgorod» (S. 359), wie sich der Stadtstaat inzwischen nannte, der Macht des Moskauer Grossfürsten nicht mehr gewachsen. 1478 musste er nach mehreren Niederlagen kapitulieren. Als Zeichen der vollständigen Unterwerfung wurde die Wetscheglocke nach Moskau transportiert. Der Grossfürst enteignete die Elite Nowgorods, liess viele von ihr hinrichten und den Rest umsiedeln. Das Land verteilte er an seine Leute. Der Handel brach zusammen. Gross-Nowgorod, das einmal wirtschaftlich stärker und politisch mächtiger gewesen war als die anderen Fürstentümer der Rus, wurde zu einer Provinz.

Nowgorod ging durch den «Eigennutz seiner Elite» unter (S. 378) – was Goehrke auch als Warnung für unsere heutige Demokratie betrachtet. Zudem gelang es dem Stadtstaat nicht, sich etwa durch ein rechtzeitiges Bündnis mit Litauen in eine staatliche Struktur einzubetten, die dem Moskauer Grossfürsten gewachsen gewesen wäre. Die Verfassung Nowgorods stellte durchaus eine Alternative zu dessen Autokratie dar. Der Niedergang des Stadtstaates stand nicht von vornherein fest, sondern hatte konkrete Ursachen. Ebenso war die Autokratie keine Staatsform, die sich für Russland sozusagen naturnotwendig ergab. Bei einer anderen historischen Konstellation hätten sich die demokratischen Verfassungselemente des Wetsche nicht nur auf Pskow (Pleskau) und Wjatka ausgedehnt, die 1489 und 1510 in das Moskauer Grossfürstentum eingegliedert wurden, sondern auf weitere Gebiete, in denen Volksversammlungen in bestimmten Fällen Ausdruck der Selbstorganisation waren. Die Geschichte Russlands und ganz Osteuropas wäre vermutlich anders verlaufen. Im Vergleich mit westeuropäischen Städten zeigt Nowgorod viele Ähnlichkeiten, hatte aber einen anderen Rechtscharakter und war durch eine andere kirchliche Tradition bestimmt. Deshalb war Nowgorod letztlich eine «Sonderform der osteuropäischen Stadt» (S. 405) mit einem «eigenen kulturellen Kosmos» (S. 408).

Im Anhang finden sich ausgewählte Quellen in Übersetzung, Tabellen, ein Glossar, eine Zeittafel sowie ein nützliches, ausführliches Personen-, Orts- und Sachregister. Das Buch ist mit Schriftbild, Karten und – teilweise farbigen – Abbildungen sehr schön gestaltet. Die Studie liest sich trotz ihres Detailreichtums spannend. Indem Goehrke immer wieder über die Schilderung persönlicher Schicksale, oft aus Birkenbasttexten rekonstruiert, Lebenswelten entfaltet, gelingt es ihm, auch die Strukturen und deren Entwicklung anschaulich darzustellen. Der Alltag der Menschen tritt lebendig vor unsere Augen, die komplizierten wirtschaftlichen, kirchlichen und politischen Verhältnisse sowie deren Veränderungen werden deutlich. Wenn die Quellenlage eine eindeutige Aussage nicht zulässt, legt Goehrke die unterschiedlichen Forschungsmeinungen dar und begründet seine eigene Interpretation. Damit regt er zur Diskussion und zu neuen Forschungen an. Ein rundum überzeugendes, grosses Werk.

Zitierweise:
Haumann, Heiko: Rezension zu: Goehrke, Carsten: Unter dem Schirm der göttlichen Weisheit. Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 494-496. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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