Cover
Titel
Kompromisslose Räume. Zu Rassismus, Identität und Nation


Autor(en)
Mehnert, Carolin
Erschienen
Bielefeld 2021: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
298 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Christian Koller, Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich

Im Zentrum von Carolin Mehnerts kulturwissenschaftlicher Tübinger Dissertation steht der Zusammenhang zwischen Raum und Rassismus, die, so die zentrale These der Arbeit, sich gegenseitig bedingen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem (Neo-)Rassismus der Gegenwart, verschiedene Exkurse in die Vergangenheit versuchen der Studie aber auch historische Tiefenschärfe zu verleihen. Die Einleitung führt anhand der „birther“-Lügen über Barack Obama und Kamala Harris ins Thema ein und formuliert als übergreifende Frage des Buches, „wie sich Rassismus und raumtheoretische Vorstellungen verzahnen, überschneiden und gegebenenfalls gegenseitig bedingen“. Davon leitet die Autorin verschiedene, sich freilich stark überlappende Unterfragen ab. Sie zielen auf Momente und Formen der Rassifizierung von „Raum“ und der Verräumlichung von „Rasse“, das Recht auf Anwesenheit in bestimmten Räumen oder dessen Verweigerung, die Konstitution von „Identität“ im Zuge „national(istisch)er Verortung“ und die Denkbarkeit eines antirassistischen und/oder rassismuskritischen Raumverständnisses (S. 15).

Das Kapitel 2 breitet raumtheoretische Überlegungen der Soziologie aus und erläutert insbesondere die Raumverständnisse von Martina Löw und Markus Schroer als zentrale Referenzpunkte der Arbeit. Dem „absolutistischen“ Raumverständnis (wie vor allem dem als homogener „Containerraum“ imaginierten nationalen Territorium) wird dabei ein „relationales Raumverständnis“ gegenübergestellt, das die dynamische Interaktion von „Raum“ und Körpern im Zentrum hat. Das „absolutistische“ Raumverständnis, so Mehnert, sei auch in der Gegenwart noch weit verbreitet, schließe die synchrone Existenz von Räumen und potenziellen Gegen-Räumen am gleichen Ort oder auf dem gleichen Territorium aus und weise eine lange Tradition rassistischer Vereinnahmungen auf.

Vor diesem Hintergrund blickt Kapitel 3 zurück auf einige rassistische Abhandlungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Autorin analysiert solche Texte bezüglich ihres Raumverständnisses und der Bedeutung der Kategorie „Raum“ in der entsprechenden Argumentationsstruktur. Mehnert konzentriert sich dabei auf wenige „Klassiker“: Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und Alfred Rosenberg. Bei allen dreien zeigt sich – was keine völlig neue Erkenntnis darstellt – eine zentrale Rolle (beziehungsweise in Mehnerts Worten: eine „Verknüpfung und Verschachtelung“) von „Rasse“ mit der Kategorie „Raum“, die allerdings je nach Autor unterschiedlich ausgestaltet ist. Gemeinsam ist ihnen, dass „Raum“ (in einem „absolutistischen“ Verständnis) die grundsätzliche Problematik zu überdecken hilft, die biologische „Rasse“, die eigentlich im Kern der Argumentationsstruktur steht, wirklich genau zu definieren.

Das Kapitel 4 führt erneut zu raumtheoretischen Überlegungen. Angesichts der konstatierten engen Verknüpfung von „absolutistischem“ Raumverständnis und rassistischen Argumentationsstrukturen erörtert Mehnert nun Möglichkeiten des Aufbrechens so verstandener Räume. Über den von Foucault inspirierten Begriff der „Gegen-Räume“ gelangt sie dabei wieder zu einem Plädoyer für ein relationales Raumverständnis im Sinne von Löw und Schroer: „Nur auf diese Weise behält das Subjekt als wechselseitig abhängig vom Raum verstandenes die Handlungsfähigkeit und auch Handlungsmacht[,] sowohl gegen die Prägungen des Raumes zu agieren als auch gegen die Paradigmen und ideologischen Herrschaftsansprüche der Räume sowie gegebenenfalls der Gegen-Räume.“ (S. 89) Im weiteren Verlauf des Kapitels erörtert Mehnert insbesondere Vorstellungen von „Reinheit“ in der Korrelation von Rassismus und „absolutistisch“ verstandenem „Raum“.

Das fünfte, als „Exkurs“ deklarierte Kapitel zu „Raum und Politik“ befasst sich mit Carl Schmitts raumtheoretischen Überlegungen, die gemäß Mehnert „einen unterstützenden Nährboden für rassistische und rassifizierende Argumentationen“ geboten haben (S. 116). Das Kapitel bietet kaum neue Erkenntnisse – Schmitt wird auch hauptsächlich als Illustration der Affinität zwischen „absolutistischem“ Raumverständnis und Rassismus präsentiert, um zu zeigen, „wie der Raum des Politischen instrumentalisiert werden kann, um raumtheoretische, geopolitische Ansichten und Strategien für Rassismen latent zu öffnen sowie über die Institutionalisierung und juristische Rückbindung in einen zweifelhaften Prozess der Normalisierung überzuführen“ (S. 116f.). Wie bei den Passagen zu Gobineau, Chamberlain und Rosenberg werden indessen auch Schmitts Theorien zu „Raum“ und „Rasse“ kaum diskurs- und sozialhistorisch sowie im Hinblick auf ihre Wirkungsmächtigkeit kontextualisiert. Obwohl Schmitts Konzept des „Großraumes“ erwähnt wird, unterbleibt beispielsweise jeglicher Verweis auf den zeitgenössischen „geopolitischen“ Diskurs und die einschlägige Forschungsliteratur, obwohl sich gerade hier zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Zusammenhang von Raumvorstellungen und Rassismus hätten finden lassen.1

In Kapitel 6 kehrt die Autorin abermals zur Raumtheorie zurück und diskutiert die Möglichkeiten von „gegen-reaktionären Räumen“ im Dienste des Anti-Rassismus beziehungsweise der Rassismuskritik. Ihres Erachtens ist es „notwendig, das absolutistische Raumverstehen dahingehend zu dynamisieren, dass ein Denken sowie die Existenz von mehreren ‚Räumen‘ an einem Ort oder Territorium möglich wird. Dies öffnet die situativ geprägten Handlungen dahingehend, dass die gegenseitige Bedingtheit von Subjekt und ‚Raum‘ zugelassen und in deren Wirkmächtigkeit akzeptiert und produktiv gemacht wird. Erst in diesem Moment wird die Konstruktion und das Wirken gegen-reaktionärer ‚Räume‘ möglich, welche direkt auf den jeweiligen spezifischen Kontext reagieren können. An genau diesem Punkt liegt das tatsächliche anti-rassistische Potenzial einer konsequenten und aktiven Raumkonstitution.“ (S. 137) Die Autorin verbleibt dabei aber, wie die zitierte Kernpassage aus dem Fazit des Kapitels zeigt, wiederum auf einer abstrakten Ebene, die erneut wenig über ein allgemeines Plädoyer für ein relationales Raumverständnis in Anlehnung an Löw (unter Einbezug einiger Überlegungen von Simmel und Bourdieu) hinausgeht.

Das letzte, mit mehr als 100 Seiten bei weitem umfangreichste Kapitel 7 ist dem Thema „Rassismus und Raum im 21. Jahrhundert“ gewidmet. Es kreist um die Zusammenhänge zwischen Raumverständnis, kulturalistischem Neo-Rassismus, Nationalismus, Migration und Identitätsvorstellungen. Mehnert befasst sich unter diesen Prämissen vor allem mit den Thesen von Thilo Sarrazin und Samuel Huntington, dem Trump’schen Mauerprojekt sowie der Verschwörungsphantasie vom „Großen Austausch“, bleibt dabei aber auch hier auf einer recht allgemein-abstrakten Ebene. Eine Auseinandersetzung etwa mit Stephan Trübys Überlegungen zu „rechten Räumen“ unterbleibt.2

Das knapp gehaltene Fazit konstatiert zunächst eine ungebrochene, konstante Relevanz der Kategorie „Raum“ für die kritische Analyse des Rassismus vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Die Autorin spricht sich dafür aus, den „Spatial Turn“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften keineswegs vorschnell ad acta zu legen. Im Weiteren enthält die Schlusspassage ein „Plädoyer für Dynamisierung“ von Raum- und Identitätsvorstellungen, das angesichts des einleitend formulierten Fragenkatalogs und des in verschiedenen Hauptkapiteln ausgebreiteten theoretischen Instrumentariums allerdings doch recht unspezifisch daherkommt und den Rezensenten etwas ratlos zurücklässt.

Insgesamt kann Carolin Mehnert das Verdienst für sich beanspruchen, in ihrem Buch die große Bedeutung von Raumvorstellungen für rassistische und neo-rassistische Argumentationsstrukturen so explizit wie bisher kaum jemand betont zu haben, auch wenn diese Erkenntnis letztlich doch nicht so neu ist, wie das Buch glauben zu machen versucht. In Mehnerts Ausführungen fehlt etwa eine Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur zur Genese und Weiterentwicklung des Rassenkonzepts infolge europäischer Raumaneignung auf anderen Kontinenten vom 15. bis 20. Jahrhundert, ebenso wie die Berücksichtigung von Forschung zu räumlicher „Rassentrennung“ in den Kolonialsystemen verschiedener europäischer Mächte, der amerikanischen Segregation, dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem oder der südafrikanischen Apartheid, zu Konzept und Praxis „ethnischer Säuberungen“ oder zur Rassifizierung von Diskriminierungsstrukturen in Bezug auf vermeintlich „raumlose“ Gruppen, namentlich im Rassen-Antisemitismus und Rassen-Antiziganismus.

Für den historisch sozialisierten Rezensenten fallen auch kritisch eine enge argumentative Anlehnung an die soziologischen Referenzwerke zur Raumtheorie sowie zahlreiche Redundanzen bei deren Auswertung auf. Zudem bewegen sich die historischen Ausflüge ins 19. und 20. Jahrhundert auf dem ideengeschichtlichen Höhenkamm ohne sozialhistorische und praxeologische Unterfütterung. Ebenso argumentieren die raumtheoretischen Betrachtungen auf einem hohen Abstraktionsniveau und werden kaum durch konkrete Beispiele plausibilisiert. Wo solche eingestreut werden – so schon in der Einleitung der „Birtherismus“ –, dienen sie rein illustrativen Zwecken, ohne später im Lichte der theoretischen Überlegungen wieder aufgegriffen zu werden, oder funktionieren wie im Fall der Ausführungen zu Schmitt lediglich als „Cliffhanger“ im Übergang zum nächsten Theorieabschnitt, in dem dann häufig auch kaum deutlich wird, wo und inwiefern den Referenzwerken von Löw und Schroer eigenständige Überlegungen hinzugefügt werden. Dies ist insbesondere angesichts des auf einen antirassistischen Praxisanspruch abzielenden Plädoyer-Charakters der Arbeit zu bedauern. Nichtsdestotrotz könnten die Impulse aus Mehnerts Arbeit auch von der historischen Rassismusforschung zum Anlass genommen werden, die Kategorie „Raum“ stärker und systematischer in ihre Analyse einzubeziehen und dabei verschiedene Raumkonzepte – sowohl in den Diskursen der historischen Akteur:innen wie auch als analytische Konzepte der eigenen Forschung – genauer zu reflektieren.

Anmerkungen:
1 Z.B. Karl-Georg Faber, Zur Vorgeschichte der Geopolitik. Staat, Nation und Lebensraum im Denken deutscher Geographen vor 1914, in: Heinz Dollinger / Horst Gründer / Alwin Hanschmidt (Hrsg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag am 30. Januar 1982, Münster 1982, S. 389–406; Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Politischen Geographie und ihrer Terminologie unter besonderer Berücksichtigung von Militär- und Kolonialgeographie, Bonn 1988; Rainer Sprengel, Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914–1944, Berlin 1996; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; dies. / Patricia Chiantera-Stutte (Hrsg.), Denken im Raum. Friedrich Ratzel als Schlüsselfigur geopolitischer Theoriebildung, Baden-Baden 2021.
2 Stephan Trüby, Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche, Basel 2020.