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In den USA haben sich die Deaf Studies in den letzten Jahrzehnten dagegen zu einem eigenen Forschungszweig mit stark kulturhistorischer Komponente entwickelt. Das anhaltende Desinteresse hierzulande hat auch damit zu tun, dass die Kultur der Gehörlosen, aber auch gehörlose Forscher:innen (wie generell Forscher:innen mit Behinderungen) an den europäischen Hochschulen noch kaum präsent sind. Nach einigen wenigen Pionierarbeiten haben in jüngster Zeit eine Reihe von Qualifikationsarbeiten an der Universität Basel, ein Aufarbeitungsprojekt des Schweizerischen Gehörlosenbunds sowie ein laufendes Vorhaben im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» erste Schritte zur Erforschung der Gehörlosengeschichte der Schweiz unternommen. Der Sammelband von Marion Schmidt und Anja Werner hat deshalb für den deutschen Sprachraum Pioniercharakter. Er setzt sich zum Ziel, die visuelle, gehörlose Kultur der hörenden Mehrheitsgesellschaft näherzubringen. Als Autor:innen der Beiträge zeichnen teils gehörlose oder hörende Historiker:innen, teils Aktivist:innen und Fachpersonen, die sich in der Gehörlosenbewegung engagieren. Die Beiträge verfolgen alle mehr oder weniger historische Perspektiven. Die Geschichte der Gehörlosen im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz), die im Fokus des Bands steht, weist einige Gemeinsamkeiten auf. Dazu gehört eine bis heute stark ausgeprägte Lautsprachtradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Sie war dafür verantwortlich, dass die Gebärdensprache über Jahrzehnte hinweg diffamiert und bekämpft wurde. Gehörlose wurden pathologisiert, gezwungen, die Lautsprache zu lernen, und sozial benachteiligt. Ab den 1970er Jahren lässt sich in allen drei Ländern ein Aufbruch der Gehörlosenbewegung beobachten. Die Anerkennung der Gehörlosen als sprachlich-kulturelle Minderheit hat seither erfreuliche Fortschritte gemacht, auch wenn die Ziele längst noch nicht erreicht sind und sich ein Teil der Gehörlosengemeinschaft durch die wachsende Verbreitung von Cochlea-Implantaten in den letzten Jahrzehnten erneut bedroht sieht. Für die (hörenden) Leser:innen ist es wichtig zu wissen, dass Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung keine homogene Gruppe bilden. Einige gebärden, einige benutzen Hörhilfen, immer mehr kommunizieren bilingual. Das Augenmerk des Bandes liegt vornehmlich, wenn auch nicht ausschliesslich, auf gebärdensprachlich kommunizierenden Menschen. Die substantielle Einleitung der beiden Herausgeberinnen gibt einen fundierten Überblick über das Thema und den aktuellen Forschungsstand im deutschsprachigen Raum (sowie, als Kontrast dazu, einige Ausblicke auf die USA). Die Beiträge, auf die hier nicht alle einzeln eingegangen werden kann, sind in drei Themenblöcke gegliedert. Ein erster Teil beschäftigt sich mit der Perspektive gehörloser Menschen. Dabei geht es einerseits um die Untersuchung von Tagebuchaufzeichnungen und Heimakten, die es erlauben, ansatzweise die Sichtweisen von gehörlosen Menschen zu rekonstruieren, andererseits um die bislang wenig beachtete Praxis des Lippenlesens. Im Zentrum des zweiten Teils stehen verschiedene institutionelle Perspektiven auf Gehörlosigkeit. Ein erster Beitrag beschäftigt sich mit den Debatten um die (Zwangs‐)Sterilisation von Gehörlosen in der Weimarer Republik und im «Dritten Reich» sowie der Rolle, die die Gehörlosengemeinschaft dabei spielte. Ein Beitrag thematisiert die Ermordung jüdischer Gehörloser im Holocaust und die sich darauf beziehenden erinnerungspolitischen Debatten der jüngsten Gegenwart. Zwei weitere Beiträge untersuchen die Entwicklung von Gehörlosenorganisationen in der DDR und der Schweiz. Im Zentrum des dritten Teils stehen hörende Perspektiven auf Gehörlose. Ein Beitrag untersucht anhand von Kriminalfällen die Berücksichtigung von Gehörlosigkeit im Recht. Drei weitere Beiträge beleuchten Entwicklungen in der Gehörlosenpädagogik und – am Beispiel von Österreich – die zaghafte Überwindung des Oralismus vor dem Hintergrund der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung der Gegenwart. Das Themenspektrum der Beiträge ist somit weit gesteckt. Auch die methodischen Ansätze sind unterschiedlich: Sie reichen von Beiträgen mit gleichstellungspolitischem oder sozialpädagogischem Fokus bis zu klassischen sozialhistorischen Analysen. Aus Schweizer Sicht sind zwei Beiträge von besonderer Bedeutung, weshalb sie hier eingehender besprochen werden sollen. Der erhellende Beitrag von Vera Blaser und Matthias Ruoss, der an die aktuelle Debatte um fürsorgerische Zwangsmassnahmen anknüpft, beschäftigt sich mit den «Lebenswelten» – de facto eher: den Lebenschancen – von ehemaligen Schüler:innen der Taubstummenschule St. Gallen zwischen 1930 und 1960. Anhand von Zöglingsdossiers zeigen Blaser und Ruoss, dass die berufliche Integration bei der Nachbetreuung der ausgetretenen Schüler:innen durch die Schule ab 1940 ein wachsendes Gewicht bekam. Trotzdem blieben die Berufschancen der jungen Gehörlosen beschränkt. Sie wurden gezielt auf typische Gehörlosenberufe (Textilarbeiterin, Schneider etc.) vorbereitet. Für diejenigen, denen man keine Lehre zutraute, bildeten Hilfsjobs in der Landwirtschaft (Männer) oder Hauswirtschaft (Frauen) ein Auffangbecken. Viele Gehörlose litten im Alltag unter sozialer Isolation – nicht zuletzt, weil die Fürsorger:innen ihren Heiratswünschen skeptisch gegenüberstanden. Vor allem junge Frauen galten als sittlich gefährdet. Wer dennoch heiraten wollte, musste oft eine erbbiologische Vorprüfung über sich ergehen lassen. Brisant sind die Befunde insofern, als die Autorin und der Autor zeigen, dass solche Benachteiligungen und Ausschlussmechanismen zu einem grossen Teil auf die vorurteilsbelastete und wenig flexible Haltung der hörenden Akteur:innen – und nicht etwa auf das eingeschränkte Hörvermögen – zurückzuführen waren. Erstmals zeigt der Beitrag auch anhand von Quellen auf, dass vor allem junge gehörlose Frauen von (Zwangs‐)Sterilisationen betroffen waren. Ebenfalls zeigt er, dass Zwangseinweisungen in die Psychiatrie im Umgang mit eigensinnigen Gehörlosen lange ein verbreitetes Konfliktlösungsmuster waren. Der Beitrag von Michael Gebhard, der bereits 1999 ein Standardwerk zur Geschichte der Gehörlosen und Schwerhörigen in der Schweiz vorgelegt hat, beleuchtet anhand des Vereins zur Unterstützung der Gebärdensprache der Gehörlosen (VUGS) den langen Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache. Er behandelt damit einen wichtigen Strang der gehörlosen Emanzipationsbewegung in der Schweiz. Der verstärkte Austausch mit Gehörlosengemeinschaften im Ausland (vor allem in den USA) ab den 1970er Jahren, die sukzessive Verankerung von Gebärden in Unterricht und Weiterbildung, die Erforschung der Gebärdensprache sowie die politische Mobilisierung der Gehörlosen und die Einflussnahme mittels Resolutionen und Petitionen stellten wichtige Triebkräfte und Etappen auf diesem Weg dar. Der VUGS verstand sich in diesem Kontext als ein Forschungsverein, der massgeblich von Gehörlosen selbst getragen wurde. 1984 lancierte der Verein ein Video-Projekt, mit dem die regionale Vielfalt der Gebärdensprache in der Schweiz aufgezeigt und dokumentiert wurde. Zwischen 2007 und 2012 führte der Verein das Projekt «Gehörlose forschen selbst» durch. Dabei wollte man gehörlose Personen anregen, sich aktiv mit der Geschichte ihrer Gemeinschaft zu beschäftigen. Nachhaltige Wirkung erzielte der VUGS vor allem über seine Publikationsreihe, die sich an ein linguistisch interessiertes Publikum richtete. 2015 löste sich der Verein auf, wofür Gebhard verschiedene Faktoren verantwortlich macht: finanziell-administrative Schwierigkeiten, Probleme bei der Rekrutierung interessierter Gehörloser sowie die wachsende Distanz des Wissenschaftsvereins von der gehörlosen Basis. Die Vielfalt der Zugänge und der persönlichen und wissenschaftlichen Hintergründe der Autor:innen ist ein grosses Qualitätsmerkmal des Sammelbandes von Marion Schmidt und Anja Werner. Der Umstand, dass einzelne Beiträge etwas faktenlastig sind und argumentative Schwächen aufweisen, schmälert den Wert des Buches kaum. Der Band bietet eine gute Basis, um die vielschichtige und wechselvolle Geschichte der Gehörlosen im deutschsprachigen Raum jenseits von linearen und pauschalen Unterdrückungsoder Erfolgsnarrativen weiter zu erforschen. Eine Frage, die die beiden Herausgeberinnen in der Einleitung ansprechen (und letztlich offenlassen), wird dabei zentral sein: Betreibt man die Erforschung der Geschichte gehörloser Menschen als Teil einer «inkludierenden Geschichtsschreibung», oder aber geht es um das Schreiben einer «Gehörlosengeschichte », also einer histoire à part einer kulturellen Minderheit? Die meisten Beiträge des Bandes geben darauf eigentlich eine eindeutige Antwort: die Geschichte der Gehörlosen und ihrer Kultur war – gerade wegen des problematischen Oralismus der hörenden Mehrheitsgesellschaft – Teil des fundamentalen Wandels, den die europäischen Rechts- und Sozialstaaten in den letzten 200 Jahren durchlaufen haben. Zitierweise: Germann, Urs: Rezension zu: Schmidt, Marion; Werner, Anja (Hg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2019. Zuerst erschienen in: |http://www.sgg-ssh.ch/de/publikationen/schweizerische-zeitschrift-fuer-geschichte-szg|Schweizerische Zeitschrift für Geschichte| 70 (1), 2020, S. 162-164. Online: ." 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Marion Schmidt und Anja Werner formulieren für das Sammelwerk das Ziel, einen „weiteren Grundstein“ (S. 21) für diese Forschungsrichtung in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu legen. Der geschichtswissenschaftliche Nachholbedarf spiegelt sich ebenso in der Zusammensetzung der Beitragenden: Das Aufgebot umfasst neben akademischen Geisteswissenschaftler/innen verschiedener Disziplinen auch Lehrerinnen und Verbandsvertreter. 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Sylvia Wolff betrachtet Schülertagebücher der Hamburger Taubstummenanstalt aus dem frühen 19. Jahrhundert als Selbstvergewisserungsmedien. Wenngleich ihre theoretische Einordnung des Aussagewertes von institutionell hervorgebrachten Egodokumenten erfahreneren Leser/innen überdimensioniert erscheinen mag, schildert Wolff nicht nur geschlechterdifferenzierte Erfahrungswelten, sondern zeigt auch Abgrenzbewegungen gehörloser gegenüber blinden Menschen. Vera Blaser und Matthias Ruoss nuancieren ebenfalls Selbstverortungen untergebrachter Schülerinnen und Schüler. Sie blicken besonders auf die geschlechtsspezifische Nachfürsorge für Schulabgänger/innen der St. Gallener Taubstummenanstalt zwischen den 1930er- und 1950er-Jahren. Deren Berufs- und Eheberatung schrieb tradierte Rollenbilder fort; zudem ließ sie aus erbbiologischen Erwägungen Ehen unter Gehörlosen teilweise nur nach Sterilisationen zu. Die übergreifende These von Blaser und Ruoss, dass die berufliche Teilhabe Friktionen zwischen gehörlosen Menschen und der Mehrheitsgesellschaft nicht abbaute, sondern verstärken konnte, überzeugt. Sie unterläuft Erfolgserzählungen, die der gesellschaftlichen eine berufliche „Integration“ voranstellen. Der institutionalisierte Paternalismus traf auf ein neues Selbstbewusstsein gehörloser Arbeitnehmer/innen, die schlechtere Aufstiegschancen bei hörenden Arbeitgebern immer weniger akzeptierten. Die Soziologin Andrea Neugebauer vertieft diese Frage nach der Produktion von Ungleichheit gehörloser und schwerhöriger Menschen durch die mehrheitskulturelle Erwartungshaltung eines alleinigen oder präferierten Gebrauchs von Lautsprache. Anhand narrativer Interviews weist sie Lippenlesen als asymmetrische Kommunikationsform aus. Ihre gelungene Fallstudie unterscheidet durchaus eigensinnige Bewältigungsstrategien der permanenten Abhängigkeit vom Sehen der Lippenbewegungen. Allerdings fehlt der Konnex zur historischen Forschung. Gerade weil Neugebauer theoretisch wie sprachlich luzide eine bisher kaum erforschte Praktik seziert, hätte eine Einordnung in historiographische Fragen den Beitrag abgerundet. Der zweite Teil blickt auf die Handlungsspielräume bestimmter Gruppen und Verbände gehörloser Menschen im 20. Jahrhundert. Ylva Söderfeldt und Enno Schwanke beleuchten die ambivalente Rezeption eugenischer Debatten in der deutschen Gehörlosenbewegung während der Weimarer Republik. Mit Beiträgen aus der verbandlichen „Deaf Press“ unterfüttern sie ihre Beobachtung, dass gerade gehörlose Nachkommen hörender Eltern angedrohte Unfruchtbarmachungen und die generelle Einteilung als „minderwertig“ nicht nur zurückwiesen, sondern sich solche Vorwürfe aneignen konnten, um ihre eigene Leistungsfähigkeit hervorzuheben und sich gegenüber anderen behinderten Menschen aufzuwerten (S. 180). Söderfeldt und Schwanke reihen sich damit in Untersuchungen ein, die sich gegen eine singularisierende Geschichte bestimmter Gruppen von oder gar „der“ behinderten Menschen wenden und aufzeigen, dass diskriminierende Fremdbilder auch Bruchlinien innerhalb einer als homogen wahrgenommenen Gemeinschaft behinderter Menschen verstärken oder erst hervorbringen konnten.[2] Michael Gebhards Aufsatz zur Etablierung der Gebärdensprachforschung in der Schweiz sowie Anja Werners und Carolin Wiethoffs quellengesättigte Untersuchung strategischer Kommunikationspraxen von Verbandsoberen in der frühen DDR zeigen ebenfalls Klüfte innerhalb nationaler „Deaf Communities“. Mark Zaurov trägt ein Plädoyer nicht nur für eine inklusivere, sondern auch für eine ausdifferenziertere Erinnerungskultur bei. Er wirft der bestehenden Holocaustforschung weitgehende Ignoranz gegenüber den spezifischen Lebenslagen jüdischer Gehörloser in Vernichtungslagern vor. Auch die Erinnerung an die unterschiedlichen Leid- und Unrechtserfahrungen behinderter und gehörloser Menschen sei unter dem Label der „Aktion T4“ homogenisiert und per se der „Euthanasie“ zugerechnet worden (S. 275f.). Zaurov kann in seinem engagierten Zwischenruf, der die persönlichen Anstrengungen des Autors für einen neuen Erinnerungsort textlich wie bildlich dokumentiert, das Spannungsverhältnis zwischen der Forderung nach angemessenen Erinnerungsweisen und dem Vorwurf einer Opferkonkurrenz letztlich nicht auflösen. Trotz der begrüßenswerten Konjunktur der Public Disability History[3] hätte ein stringenter Fachbeitrag zu Zaurovs Forschungskonzept „Deaf Holokaust“[4] besser zur historiographischen Bandkomposition gepasst als der Blick auf die Erinnerungskultur; nicht zuletzt da über Zaurovs Konzept einer näheren Bestimmung des Verhältnisses von Deaf History, Disability History und der „allgemeinen“ Geschichtsschreibung der Boden hätte bereitet werden können. Die Beiträge des finalen Abschnitts lesen Perspektiven hörender Mehrheitsgesellschaften auf Gehörlosigkeit gegen den Strich. Aus einem historisch-kriminologischen Blickwinkel legt Raluca Enescu vor dem Hintergrund der preußischen (Rechts-)Reformen anhand von drei Mordprozessen im 18. und 19. Jahrhundert den Wandel juristischer Vorstellungen von der strafrechtlichen Schuldfähigkeit gehörloser Menschen frei. In ihrem detailreichen _close reading_ arbeitet Enescu die in der Rechtsprechung und in der auf Lautsprache basierenden Rechtspraxis produzierten Bilder von Gehörlosigkeit heraus. So zeigt sie, dass ertaubten Menschen größere Einsicht in die Kategorien Recht und Unrecht zugetraut wurde als gehörlos Geborenen. Für die Angeklagten hatte ihre Gehörlosigkeit insgesamt einen ambivalenten Effekt. In den früheren Fällen sahen die Richter entgegen der damals gängigen Praxis von Todesstrafen ab, da die Delinquenten durch ihre Behinderung bereits „gestraft“ seien. Im jüngsten Fall hingegen wurde einem gehörlos Geborenen die Fähigkeit abgesprochen, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können – eine Diskriminierung, die zum Freispruch führte. Mit Florian Wibmers Beitrag zum Wandel der Lehrausrichtung des kaiserlich-königlichen Taubstummeninstituts in Wien während der Habsburger Monarchie beginnt schließlich eine Aufsatzreihe zur Historisierung der Gehörlosenpädagogik. Wibmer verdeutlicht sehr quellennah, dass nationale Auseinandersetzungen um die pädagogische Verwendung von Laut- und Gebärdensprachen bereits im 19. Jahrhundert deutlich widersprüchlicher waren, als es das Schlagwort vom polarisierten „Methodenstreit“ vermuten lässt. Auch Ingo Degner beschreibt eine vieldeutige, hybride Sprachlehrrealität im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. 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Der Band hat sein Ziel erreicht, Impulse zu setzen für eine neue Historiographie, die gehörlose Menschen als Subjekte ihrer eigenen Geschichte versteht. Wenngleich engere Klammern zwischen den regional, epochal und methodisch sehr unterschiedlichen Beiträgen wünschenswert gewesen wären, ist diese Verinselung nur Ausdruck des großen Forschungsbedarfs. Grundsteine sind gelegt – nun muss sich über die Architektur verständigt werden. Denn ob die Gehörlosengeschichte ein separates historiographisches Gebäude trägt oder ein Zimmer innerhalb der Disability History bezieht, ist auch nach der Lektüre ungewiss.[5] Doch nur dank der Pionierarbeit dieses Sammelbandes können die baustatischen Überlegungen beginnen. Anmerkungen: [1] Vgl. problematisierend Anja Werner, Behindert oder sprachlich-kulturelle Minderheit? Eine kulturhistorische Perspektive auf gehörlose Menschen in Deutschland, in: Dominik Groß / Ylva Söderfeldt (Hrsg.), „Disability Studies“ meets „History of Science“. Körperliche Differenz und soziokulturelle Konstruktion von Behinderung aus der Perspektive der Medizin-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte, Kassel 2017, S. 105–129. [2] Zur Konjunktur zeithistorischer Analysen von Diskriminierungen unter als behindert kategorisierten Menschen vgl. auch Gabriele Lingelbach, Behindert / Nicht behindert. Begrifflichkeiten, Konzepte und Modelle in der Disability History, in: Aus Politik und Zeitschichte 68/38–39 (2018), S. 37–41, hier S. 40f., https://www.bpb.de/apuz/275890/behindert-nicht-behindert-disability-history?p=all (12.09.2020). [3] Cordula Nolte (Hrsg.), Dis/ability History Goes Public. Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung, Bielefeld 2020. [4] Mark Zaurov, “Deaf Holocaust”. Deaf Jews and Their “True” Communication in the Nazi Concentration Camps, in: Michaela Wolf (Hrsg.), Interpreting in Nazi Concentration Camps, New York 2016, S. 135–145. [5] Zur grundlegenden Diskussion unter Disability Historians, ob ihr Gegenstand die Lebenslagen behinderter Menschen sind und/oder ob sie eine gänzliche neue Form der Geschichtsschreibung betreiben, welche die Bedingungen verkörperter Normalitäts- und Devianzvorstellungen offenlegt, vgl. Gabriele Lingelbach / Anne Waldschmidt, Jenseits der Epochengrenzen. Perspektiven auf die allgemeine Geschichte, in: Cordula Nolte u. a. (Hrsg.), Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch, Affalterbach 2017, S. 50–52." 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Schmidt u.a. (Hrsg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie | infoclio - Rezensionen

M. Schmidt u.a. (Hrsg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

Cover
Titel
Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz


Herausgeber
Schmidt, Marion; Werner, Anja
Reihe
Disability Studies. Körper – Macht –Differenz (14)
Erschienen
Bielefeld 2019: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 39,99
von
Urs Germann, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Die Geschichtswissenschaft hat sich bisher kaum für gehörlose Menschen und Menschen mit Hörbehinderung interessiert – zumindest nicht in Europa und kaum in der Schweiz. In den USA haben sich die Deaf Studies in den letzten Jahrzehnten dagegen zu einem eigenen Forschungszweig mit stark kulturhistorischer Komponente entwickelt. Das anhaltende Desinteresse hierzulande hat auch damit zu tun, dass die Kultur der Gehörlosen, aber auch gehörlose Forscher:innen (wie generell Forscher:innen mit Behinderungen) an den europäischen Hochschulen noch kaum präsent sind. Nach einigen wenigen Pionierarbeiten haben in jüngster Zeit eine Reihe von Qualifikationsarbeiten an der Universität Basel, ein Aufarbeitungsprojekt des Schweizerischen Gehörlosenbunds sowie ein laufendes Vorhaben im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» erste Schritte zur Erforschung der Gehörlosengeschichte der Schweiz unternommen.

Der Sammelband von Marion Schmidt und Anja Werner hat deshalb für den deutschen Sprachraum Pioniercharakter. Er setzt sich zum Ziel, die visuelle, gehörlose Kultur der hörenden Mehrheitsgesellschaft näherzubringen. Als Autor:innen der Beiträge zeichnen teils gehörlose oder hörende Historiker:innen, teils Aktivist:innen und Fachpersonen, die sich in der Gehörlosenbewegung engagieren. Die Beiträge verfolgen alle mehr oder weniger historische Perspektiven. Die Geschichte der Gehörlosen im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz), die im Fokus des Bands steht, weist einige Gemeinsamkeiten auf. Dazu gehört eine bis heute stark ausgeprägte Lautsprachtradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Sie war dafür verantwortlich, dass die Gebärdensprache über Jahrzehnte hinweg diffamiert und bekämpft wurde. Gehörlose wurden pathologisiert, gezwungen, die Lautsprache zu lernen, und sozial benachteiligt. Ab den 1970er Jahren lässt sich in allen drei Ländern ein Aufbruch der Gehörlosenbewegung beobachten. Die Anerkennung der Gehörlosen als sprachlich-kulturelle Minderheit hat seither erfreuliche Fortschritte gemacht, auch wenn die Ziele längst noch nicht erreicht sind und sich ein Teil der Gehörlosengemeinschaft durch die wachsende Verbreitung von Cochlea-Implantaten in den letzten Jahrzehnten erneut bedroht sieht. Für die (hörenden) Leser:innen ist es wichtig zu wissen, dass Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung keine homogene Gruppe bilden. Einige gebärden, einige benutzen Hörhilfen, immer mehr kommunizieren bilingual. Das Augenmerk des Bandes liegt vornehmlich, wenn auch nicht ausschliesslich, auf gebärdensprachlich kommunizierenden Menschen.

Die substantielle Einleitung der beiden Herausgeberinnen gibt einen fundierten Überblick über das Thema und den aktuellen Forschungsstand im deutschsprachigen Raum (sowie, als Kontrast dazu, einige Ausblicke auf die USA). Die Beiträge, auf die hier nicht alle einzeln eingegangen werden kann, sind in drei Themenblöcke gegliedert. Ein erster Teil beschäftigt sich mit der Perspektive gehörloser Menschen. Dabei geht es einerseits um die Untersuchung von Tagebuchaufzeichnungen und Heimakten, die es erlauben, ansatzweise die Sichtweisen von gehörlosen Menschen zu rekonstruieren, andererseits um die bislang wenig beachtete Praxis des Lippenlesens. Im Zentrum des zweiten Teils stehen verschiedene institutionelle Perspektiven auf Gehörlosigkeit. Ein erster Beitrag beschäftigt sich mit den Debatten um die (Zwangs‐)Sterilisation von Gehörlosen in der Weimarer Republik und im «Dritten Reich» sowie der Rolle, die die Gehörlosengemeinschaft dabei spielte. Ein Beitrag thematisiert die Ermordung jüdischer Gehörloser im Holocaust und die sich darauf beziehenden erinnerungspolitischen Debatten der jüngsten Gegenwart. Zwei weitere Beiträge untersuchen die Entwicklung von Gehörlosenorganisationen in der DDR und der Schweiz. Im Zentrum des dritten Teils stehen hörende Perspektiven auf Gehörlose. Ein Beitrag untersucht anhand von Kriminalfällen die Berücksichtigung von Gehörlosigkeit im Recht. Drei weitere Beiträge beleuchten Entwicklungen in der Gehörlosenpädagogik und – am Beispiel von Österreich – die zaghafte Überwindung des Oralismus vor dem Hintergrund der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung der Gegenwart. Das Themenspektrum der Beiträge ist somit weit gesteckt. Auch die methodischen Ansätze sind unterschiedlich: Sie reichen von Beiträgen mit gleichstellungspolitischem oder sozialpädagogischem Fokus bis zu klassischen sozialhistorischen Analysen.

Aus Schweizer Sicht sind zwei Beiträge von besonderer Bedeutung, weshalb sie hier eingehender besprochen werden sollen. Der erhellende Beitrag von Vera Blaser und Matthias Ruoss, der an die aktuelle Debatte um fürsorgerische Zwangsmassnahmen anknüpft, beschäftigt sich mit den «Lebenswelten» – de facto eher: den Lebenschancen – von ehemaligen Schüler:innen der Taubstummenschule St. Gallen zwischen 1930 und 1960. Anhand von Zöglingsdossiers zeigen Blaser und Ruoss, dass die berufliche Integration bei der Nachbetreuung der ausgetretenen Schüler:innen durch die Schule ab 1940 ein wachsendes Gewicht bekam. Trotzdem blieben die Berufschancen der jungen Gehörlosen beschränkt. Sie wurden gezielt auf typische Gehörlosenberufe (Textilarbeiterin, Schneider etc.) vorbereitet. Für diejenigen, denen man keine Lehre zutraute, bildeten Hilfsjobs in der Landwirtschaft (Männer) oder Hauswirtschaft (Frauen) ein Auffangbecken. Viele Gehörlose litten im Alltag unter sozialer Isolation – nicht zuletzt, weil die Fürsorger:innen ihren Heiratswünschen skeptisch gegenüberstanden. Vor allem junge Frauen galten als sittlich gefährdet. Wer dennoch heiraten wollte, musste oft eine erbbiologische Vorprüfung über sich ergehen lassen. Brisant sind die Befunde insofern, als die Autorin und der Autor zeigen, dass solche Benachteiligungen und Ausschlussmechanismen zu einem grossen Teil auf die vorurteilsbelastete und wenig flexible Haltung der hörenden Akteur:innen – und nicht etwa auf das eingeschränkte Hörvermögen – zurückzuführen waren. Erstmals zeigt der Beitrag auch anhand von Quellen auf, dass vor allem junge gehörlose Frauen von (Zwangs‐)Sterilisationen betroffen waren. Ebenfalls zeigt er, dass Zwangseinweisungen in die Psychiatrie im Umgang mit eigensinnigen Gehörlosen lange ein verbreitetes Konfliktlösungsmuster waren.

Der Beitrag von Michael Gebhard, der bereits 1999 ein Standardwerk zur Geschichte der Gehörlosen und Schwerhörigen in der Schweiz vorgelegt hat, beleuchtet anhand des Vereins zur Unterstützung der Gebärdensprache der Gehörlosen (VUGS) den langen Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache. Er behandelt damit einen wichtigen Strang der gehörlosen Emanzipationsbewegung in der Schweiz. Der verstärkte Austausch mit Gehörlosengemeinschaften im Ausland (vor allem in den USA) ab den 1970er Jahren, die sukzessive Verankerung von Gebärden in Unterricht und Weiterbildung, die Erforschung der Gebärdensprache sowie die politische Mobilisierung der Gehörlosen und die Einflussnahme mittels Resolutionen und Petitionen stellten wichtige Triebkräfte und Etappen auf diesem Weg dar. Der VUGS verstand sich in diesem Kontext als ein Forschungsverein, der massgeblich von Gehörlosen selbst getragen wurde. 1984 lancierte der Verein ein Video-Projekt, mit dem die regionale Vielfalt der Gebärdensprache in der Schweiz aufgezeigt und dokumentiert wurde. Zwischen 2007 und 2012 führte der Verein das Projekt «Gehörlose forschen selbst» durch. Dabei wollte man gehörlose Personen anregen, sich aktiv mit der Geschichte ihrer Gemeinschaft zu beschäftigen. Nachhaltige Wirkung erzielte der VUGS vor allem über seine Publikationsreihe, die sich an ein linguistisch interessiertes Publikum richtete. 2015 löste sich der Verein auf, wofür Gebhard verschiedene Faktoren verantwortlich macht: finanziell-administrative Schwierigkeiten, Probleme bei der Rekrutierung interessierter Gehörloser sowie die wachsende Distanz des Wissenschaftsvereins von der gehörlosen Basis.

Die Vielfalt der Zugänge und der persönlichen und wissenschaftlichen Hintergründe der Autor:innen ist ein grosses Qualitätsmerkmal des Sammelbandes von Marion Schmidt und Anja Werner. Der Umstand, dass einzelne Beiträge etwas faktenlastig sind und argumentative Schwächen aufweisen, schmälert den Wert des Buches kaum. Der Band bietet eine gute Basis, um die vielschichtige und wechselvolle Geschichte der Gehörlosen im deutschsprachigen Raum jenseits von linearen und pauschalen Unterdrückungsoder Erfolgsnarrativen weiter zu erforschen. Eine Frage, die die beiden Herausgeberinnen in der Einleitung ansprechen (und letztlich offenlassen), wird dabei zentral sein: Betreibt man die Erforschung der Geschichte gehörloser Menschen als Teil einer «inkludierenden Geschichtsschreibung», oder aber geht es um das Schreiben einer «Gehörlosengeschichte », also einer histoire à part einer kulturellen Minderheit? Die meisten Beiträge des Bandes geben darauf eigentlich eine eindeutige Antwort: die Geschichte der Gehörlosen und ihrer Kultur war – gerade wegen des problematischen Oralismus der hörenden Mehrheitsgesellschaft – Teil des fundamentalen Wandels, den die europäischen Rechts- und Sozialstaaten in den letzten 200 Jahren durchlaufen haben.

Zitierweise:
Germann, Urs: Rezension zu: Schmidt, Marion; Werner, Anja (Hg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 162-164. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.