B. Kathan: «… alles eine Fortsetzung von Dachau und Mauthausen?»

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Titel
»... alles eine Fortsetzung von Dachau und Mauthausen?«. Die Briefe des österreichischen Publizisten Nikolaus Hovorka


Autor(en)
Kathan, Bernhard
Reihe
Mauthausen-Studien 12
Erschienen
Wien 2018: new academic press
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 29,90
von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Ausgangspunkt dieses aufschlussreichen Buches war ein Projekt des Kulturhistorikers, Sozialwissenschaftlers und Künstlers Bernhard Kathan, sich in Familien Kriegserlebnisse des Vaters oder Grossvaters erzählen zu lassen. Dabei stiess er auf die Briefe Nikolaus Hovorkas, die ihm von dessen Tochter Anny überlassen wurden. Sie ermutigte ihn auch zu seinen weiteren Forschungen über Hovorka. Dieser wurde 1901 in Bosnien geboren und lebte überwiegend in Wien. Nach einem abgebrochenen Studium wurde er ein bekannter Journalist und Publizist. 1932 veröffentlichte er ein Buch über den Nationalsozialismus, in dem er diesen als «seelische Erkrankung des deutschen Volkes» bezeichnete (S. 14). Nach dem «Anschluss» an Deutschland wurde er im März 1938 verhaftet, in das KZ Dachau eingeliefert und ein Jahr später in das KZ Mauthausen überstellt. Nach Zwangsarbeit war er aufgrund von medizinischen Kenntnissen als Laborant und als Heilmasseur von SS-Angehörigen tätig. 1942 entliess man ihn – wie andere politische Gefangene – in die Wehrmacht. In der Ukraine und in Frankreich wurde er in Feldlazaretten eingesetzt. Nach Kriegsende 1945 trat er, obwohl überzeugter Katholik, der Kommunistischen Partei Österreichs bei, aus der er 1950 wieder ausgeschlossen wurde. Später wurde er Chefredakteur der «Freiheit», des Organs des Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes. 1966 ist Nikolaus Hovorka gestorben.

Bei seiner Entlassung aus dem KZ musste Hovorka unterschreiben, über seine Lagerzeit zu schweigen. Er hatte jedoch in Briefen an seine Verlobte und spätere Frau Marie Letfuhs, seine frühere Lebensgefährtin Charlotte Reinhold, seine erste Ehefrau Friederike Datz sowie seine Schwester Annie verschlüsselt viel über die dortigen Verhältnisse mitgeteilt. Da die Zahl der Briefe, die er versenden und erhalten durfte, beschränkt war, schrieb er an mehrere Adressatinnen gleichzeitig in einem Brief, der dann rundum ging. Die Frauen verfassten ebenso einen gemeinsamen Brief. Mit den Feldpostbriefen wurde anschliessend ähnlich verfahren. Die Briefsammlung stellt somit eine einzigartige Quelle dar. Kathan versieht die zitierten Briefe mit präzisen Erläuterungen zu Personen und Ereignissen.

Nach dem einleitenden biografischen Abriss von Gregor Holzinger (Mauthausen Memorial) wertet Bernhard Kathan diese Sammlung in 50 kurzen, thematisch gegliederten Kapiteln aus, die als Überschrift immer ein Zitat aus einem Brief enthalten. Er folgt dabei nicht der Chronologie. Dies erschwert manchmal die Lektüre, weil man sich immer erst überlegen muss, in welcher Situation sich Hovorka gerade befindet. Das erste Kapitel befasst sich mit der Erschiessung der Marussja Omeltschenko 1943 in der Ukraine, die bei Hovorka im Lazarett beschäftigt gewesen war. Die Erschütterung Hovorkas über diesen Mord, den er nicht verhindern konnte, greift Kathan im 16. Kapitel noch einmal auf und thematisiert dabei auch dessen Ängste vor der eigenen Erschiessung. Den Einstieg im ersten Kapitel nutzt er, um noch einmal auf Hovorkas Biografie einzugehen und den Grundkonflikt anzudeuten, der in den Kapiteln immer wieder zur Sprache kommt: zwischen Hovorkas Wunsch, Zeugnis über die Verhältnisse abzulegen, und seinen Schuldgefühlen, den Opfern trotz seiner Vorzugsstellung bei der SS nicht mehr geholfen zu haben. Bezeichnenderweise schrieb Hovorka das geplante Buch nicht, für das seine Briefe die Grundlage hätten bilden sollen. Offenbar konnte er, wie Kathan im abschliessenden 50. Kapitel ausführt, die Spannung zwischen seinem moralischen Anspruch und seiner Nähe zu den SS-Tätern letztlich nicht verarbeiten.

In den vielen Kapiteln setzt sich Kathan – um nur einige Beispiele zu nennen – mit Hovorkas Verschlüsselungstechnik in den Briefen auseinander, mit seinem Geschichts- und Weltverständnis, seinem taktischen Anbiedern an die Nationalsozialisten, um aus dem KZ freizukommen, seinen Beziehungen zu Kameraden, seinem Verhalten als Funktionshäftling, seiner zumindest indirekten Mitwirkung als Sanitäter an Häftlingsmorden, seinem Menschenbild, seiner Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Rassenideologie und der Judenvernichtung, seiner Beteiligung an der Partisanenbekämpfung, seinem Liebesverhältnis mit einer SS-Aufseherin, seiner Einstellung zu den «Frauengeschichten» (S. 247) von Wehrmachtsangehörigen, seinem Umgang mit SS-Leuten, schliesslich mit seinen Erinnerungen und seinem Verhalten nach Kriegsende. Kathan interpretiert Hovorkas Briefe einfühlsam, aufmerksam selbst für Kleinigkeiten und unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes. Hovorka habe sich aus seinem erwähnten Grundkonflikt nicht befreien können, in den er hineingeraten sei, weil er sich in der «Grauzone» (S. 200 u. ö.) zwischen Opfer und Täter habe bewegen müssen. In der Regel verdeutlicht Kathan das Nichteindeutige, Widersprüchliche und Ambivalente im Verhalten Hovorkas und anderer Personen. Zu rigide finde ich hingegen sein Urteil über Funktionshäftlinge als «Mitakteure des Terrorregimes» (S. 87, vgl. S. 200). In der Grauzone zwischen Täter und Opfer befanden sich im Grunde alle Häftlinge, wenngleich in unterschiedlichem Ausmass, und es gab etliche Funktionshäftlinge, die das Terrorregime bewusst und aktiv bekämpften. Kathan schreibt, seine Analysen bauten auf zeitgeschichtlichen Studien auf, die «mit Faktischem» arbeiteten, während er sich «mit Erfahrungen» beschäftige (S. 55, vgl. S. 9). Diese Konstruktion eines Gegensatzes wundert mich, denn spätestens seit den 1980er Jahren finden sich zahlreiche Untersuchungen von Historikerinnen und Historikern, die Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Erinnerungen sowie Interaktionen interpretieren und sich dabei auch sprachlichen Eigenheiten, Widersprüchen, Erinnerungslücken oder Tabus widmen. Kathans Vorgehensweise liefert in dieser Hinsicht aber gewiss Anregungen für zukünftige Arbeiten. Insgesamt liegt ein unbedingt lesens- und empfehlenswertes Buch vor. Nur selten wird man eine ähnlich dichte Quelle wie diese Briefsammlung finden, die derart offen über Denken und Verhalten eines Menschen mit all seinen Widersprüchlichkeiten Auskunft gibt, der – obwohl Gegner des Nationalsozialismus – von den Bedingungen im KZ und in der Wehrmacht geprägt wurde.

Zitierweise:
Haumann, Heiko: Rezension zu: Kathan, Bernhard : «… alles eine Fortsetzung von Dachau und Mauthausen?» Die Briefe des österreichischen Publizisten Nikolaus Hovorka, Wien, Hamburg: new academic press, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 158-160. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.

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