D. Furrer: 'Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr'

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Titel
«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr». Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz


Autor(en)
Furrer, Daniel
Erschienen
Zürich 2022: NZZ Libro
Anzahl Seiten
272
Preis
CHF 34.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hubert Steinke, Medizinhistorisches Institut, Universität Bern

Das Buch von Daniel Furrer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zürich und an der Pädagogischen Fachhochschule Zürich, stellt den ersten Versuch einer Gesamtdarstellung einer Geschichte der Seuchen in der Schweiz dar. Der Autor versteht es in Anbetracht der bisher bescheidenen Erforschung des Themas als eine «Einführung». Er widmet den einzelnen Krankheiten von Pest über Cholera bis Influenza jeweils eigene Kapitel. Diese beginnen mit der Beschreibung von Erreger und Verlauf, Krankheitsbild und der heutigen Verbreitung und Häufigkeit. Darauf folgen die historische Schilderung des epidemischen Verlaufs in der Welt und der Schweiz inklusive der Schutzmaßnahmen sowie einzelne Unterkapitel mit einem Fokus auf unterschiedliche kulturgeschichtliche Aspekte.

Furrer verwendet bewusst den Begriff der «Seuche», da er «stärker» sei als andere Ausdrücke. Er setzt sich explizit in die Tradition der Seuchengeschichte von Georg Sticker und Stefan Winkle – und hier liegt das Problem des Buchs.1 Denn analog zu Winkle handelt es sich um faktenorientierte Überblicksdarstellungen, in die lange Zitate als kulturgeschichtliche Zeugen eingewoben sind. Als Beispiel mag das Kapitel zu Typhus und Ruhr genügen. Auf das Zitat eines Briefs aus dem 18. Jahrhundert folgt ein langes Zitat aus dem Historischen Lexikon der Schweiz, daran schließt sich eine Beschreibung der Trinkwasserversorgung von den Römern bis ins 20. Jahrhundert, gefolgt von längeren Zitaten aus Ulrich Bräker und Jeremias Gotthelf etc. Auf Quellenkritik wird weitgehend verzichtet. Der Autor ist sich des Problems zumindest teilweise bewusst, etwa wenn er im Kapitel zu den Pocken erwähnt, dass Gotthelf Anne Bäbi Jowäger im Auftrag der Berner Sanitätskommission verfasst habe. Doch darauf folgt ein zweiseitiges Zitat ohne jegliche kritische Einordnung. Erst zehn Seiten später wird ein kurzer Exkurs nachgeliefert, welcher die Pockenimpfung als Motor der ärztlichen Professionalisierung thematisiert. So bleibt dieses Kapitel eine nicht durchdrungene Ansammlung von Epidemie-Verläufen, lebendigen Quellenschilderungen und versprengten kritischen Bemerkungen.

Es fehlen dem Buch die zentralen Fragen, mit welchen sich die neuere Epidemiengeschichte auseinandersetzt. Bei der Lepra wäre etwa mit Samuel Cohn zu fragen, ob Epidemien nicht primär Hass, sondern vor allem Mitgefühl und eine große Verschiedenheit an Reaktionen ausgelöst haben.2 Bei den Pocken könnte man klären, ob die einfache Bevölkerung nicht – wie Eberhard Wolff festgestellt hat – durchaus rationale Gründe hatte, die Impfung abzulehnen.3 Die Cholera könnte der Aufhänger sein, um mit Mark Harrison nach den engen Verknüpfungen zwischen Wirtschaft, Globalisierung und ansteckenden Krankheiten zu suchen.4 Und die Spanische Grippe könnte dazu anregen, um mit Mark Honigsbaum über medizinischen Machbarkeitsglauben und wieso wir immer wieder überrascht werden, nachzudenken.5 All diesen und vielen weiteren möglichen Anknüpfungspunkten zu aktuellen Debatten geht der Autor aus dem Weg, obwohl es sein erklärtes Ziel ist, historischen Kontext für die heutige Diskussion zu liefern. Bezeichnend ist, dass er explizit nur die Zeit bis zur Spanischen Grippe behandeln will, aber dennoch AIDS zwei nichtssagende Seiten widmet. Es scheint, als ob sich ihm die Schwierigkeit der Aufgabe umso deutlicher gezeigt hat, je mehr sich die Geschichte der Gegenwart nähert.

Zur Verteidigung des Autors sei betont, dass in Anbetracht der Forschungslage eine Schweizer Epidemiengeschichte ein wahrlich schwieriges und großes Unterfangen wäre. Die Zeit für ein solches Projekt – wenn es denn überhaupt ein sinnvolles Ziel ist – ist noch nicht reif. Verständlich daher, dass Daniel Furrer nicht die Geschichte und auch nicht eine Geschichte, sondern eine Materialsammlung zur Geschichte der Seuchen in der Schweiz geliefert hat. Als solche kann sie ihren Nutzen haben.

Anmerkungen:
1 Georg Sticker, Abhandlungen aus der Seuchengeschichte und Seuchenlehre, 2 Bde., Gießen 1908–1912; Stefan Winkle, Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf 1997.
2 Samuel Cohn, Epidemics: hate and compassion from the plague of Athens to AIDS, Oxford 2018.
3 Eberhard Wolff, Einschneidende Massnahmen: Pockenschutzimpfung und traditionelle Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998.
4 Mark Harrison, Contagion: how commerce has spread disease, New Haven 2012.
5 Mark Honigsbaum, A history of the great influenza pandemics: death, panic and hysteria, 1830–1920, London 2014; ders., The pandemic century: one hundred years of panic, hysteria, and hubris, New York 2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
22.07.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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