A. Masé: Naum Reichesberg (1867 – 1928)

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Titel
Naum Reichesberg (1867 – 1928). Sozialwissenschaftler im Dienst der Arbeiterklasse


Autor(en)
Masé, Aline
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
von
Sandrine Mayoraz, Departement Geschichte, Universität Basel

Naum Reichesberg gehörte zu den bedeutendsten Sozialwissenschaftlern seiner Zeit. Bis heute existierten nur vereinzelte Studien, die sich vor allem mit seinem wissenschaftlichen Schaffen beschäftigen. Eine vertiefte Forschung zur Person fehlte bislang, was überraschen mag. Denn Reichesbergs immenses wissenschaftliches Werk, sein Engagement für die Entwicklung eines Arbeiterschutzes, seine wichtige Rolle in der sogenannten russisch-jüdischen Kolonie in Bern und seine Erfahrungen mit den Schweizer Bundes- und Kantonsbehörden als Migrant in den 1890er- bis 1920er-Jahren machen ihn zu einer besonders interessanten Figur. Als anerkannter Akademiker, der «je einen Fuss in der Lebenswelt der russischen Emigration und in jener der Schweizer Sozialdemokratie» (S. 283) hatte, übernahm er in zahlreichen Situationen eine wichtige Vermittlerrolle. Aline Masé schliesst mit ihrer Dissertation diese Lücke eindrucksvoll und liefert gleichzeitig anhand von Reichesbergs Lebensgeschichte einen tiefen Einblick in die bewegte Schweizer Geschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und in ihre internationalen Verzahnungen.

Da Reichesberg keine Ego-Dokumente zu seinem privaten Leben hinterlassen hat, musste Aline Masé auf Quellen zurückgreifen, die Reichesberg vor allem als «öffentliche Person» (S. 23) sichtbar machen: Behördenakten, Universitätsquellen, publizierte Werke und diverse Quellen zu Reichesbergs politischen Tätigkeiten. Mit dieser Quellenlage strebt die Historikerin eine mosaikartige Rekonstruktion von Reichesbergs Leben an, die sie als «biografische Annäherung» (S. 11, 23) bezeichnet. Basierend auf Überlegungen aus der Migrations- und Biografieforschung sowie auf dem Lebenswelt-Konzept, ist es ihr ausgezeichnet gelungen, Naum Reichesbergs Leben in seinem sozialen und historischen Kontext zu verorten. Dafür konnte die Autorin an eine solide Forschungsliteratur anknüpfen, welche die Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, der politischen Emigration und Bildungsmigration in die Schweiz (insbesondere aus dem Russischen Reich) und der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (IVgA) untersucht.

Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung folgt ein Kapitel zu Kindheit, Jugend und Emigration Reichesbergs, in dem Details zu seinen konkreten Lebensverhältnissen in Bern im Mikrokosmos von Studierenden und politischen Aktivisten und Aktivistinnen aus dem Russischen Reich erläutert werden. Im dritten Kapitel befasst sich die Autorin mit den unterschiedlichen Aufenthaltsstatus und dem gescheiterten Einbürgerungsversuch Reichenbergs vor dem Hintergrund der damaligen migrationspolitischen Rahmenbedingungen, die nach dem Ersten Weltkrieg grundlegenden Veränderungen und Verschärfungen ausgesetzt wurden. Im vierten und fünften Kapitel werden uns Reichesbergs wissenschaftliche Überzeugungen durch seine Arbeit an der Universität Bern und seine publizistischen Tätigkeiten vorgestellt. Diese werden in die Geschichte der Entwicklung der Berner Universität und der Sozialwissenschaften in der Schweiz eingebettet. In Kapitel sechs reflektiert Aline Masé das Engagement Reichesbergs für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft und verbindet dieses mit der Entwicklung des Arbeiterschutzes in der Schweiz und der Entstehung der IVgA, in der Reichesberg eine bedeutende Rolle spielte. Kapitel sieben beschreibt den Entstehungskontext der schweizerischen politischen Polizei sowie ihre Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten und analysiert die politische Rolle Reichesbergs in der Schweizer Sozialdemokratie und der russischen Emigration. Im letzten Kapitel stellt die Autorin ihre Schlussfolgerungen vor und setzt sich mit den Ergebnissen des ausgewählten methodischen Zugangs auseinander. Das Buch schliesst mit einer Reflexion zu Begriff und Verständnis der «jüdischen Identität» des Protagonisten als «Fremd-» beziehungsweise «Selbstwahrnehmung» (S. 287– 293) ab.

Der mehr thematische als chronologische Aufbau des Buchs, der durch die Quellenarten bedingt ist, funktioniert, auch wenn es gelegentlich zu kleinen Wiederholungen kommt. Der Text ist in einer gut verständlichen und lesefreundlichen Sprache verfasst. Die narrative Konstruktion einzelner Passagen, beispielsweise das Unterkapitel über das Bürgerrechtsgesuch, das die Untersuchungen und Stellungnahmen der einzelnen involvierten Behörden geschickt wiedergibt und interpretiert, hat fast schon Züge eines Kriminalromans. Dank der Beharrlichkeit der Autorin, jeder Spur nachzugehen, ist der Text mit Informationen dicht gefüllt. Die zahlreichen und zum Teil weitgreifenden Exkurse über weitere Ereignisse oder andere Personen, die Reichesberg gekannt haben beziehungsweise mit ihm verwandt waren, tragen dazu bei, dass man den historischen Kontext und die Kreise, in denen Reichesberg verkehrte, bestens erfasst. Manchmal geht die Autorin aber so sehr ins Detail, dass sogar die sehr konzentrierte Leserin den Faden verliert.

Dieser Kritikpunkt soll in keiner Weise die hervorragende Leistung von Aline Masé schmälern. Was Reichesberg so faszinierend macht, ist, dass er sich an der Schnittstelle vieler Welten bewegte. Er war zugleich Sozialwissenschaftler, Berner Universitätsprofessor, Marxist und Migrant russisch-jüdischer Herkunft. In ihrer Dissertation führt uns die Autorin diese unterschiedlichen Aspekte differenziert vor Augen. Sie zeigt einleuchtend, wie das Lebenswelt-Konzept fruchtbare Rückschlüsse auf die vielfachen Wechselwirkungen zwischen einer Lebensgeschichte und ihrer sozialen, kulturellen und politischen Umgebung erlaubt.

Zitierweise:
Sandrine Mayoraz: Rezension zu: Masé, Aline: Naum Reichesberg (1867 – 1928). Sozialwissenschaftler im Dienst der Arbeiterklasse. Zürich: Chronos 2019. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 4, 2020, S. 62-64.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 4, 2020, S. 62-64.

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