A. Kehnel: Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit

Cover
Titel
Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit


Autor(en)
Kehnel, Annette
Erschienen
München 2021: Penguin Books
Anzahl Seiten
487 S.
von
Peter Hersche

Die Generation des Rezensenten hat es als Kind, in einer eher armen Gegend aufgewachsen, noch selber erlebt: Bis in die Nachkriegszeit hinein wirtschafteten die meisten Haushalte in Europa, auch die nicht kriegsversehrten, sehr nachhaltig. Man hob Schnurreste und einmal gebrauchtes Einpackpapier und -tüten zur Zweitverwendung sorgfältig auf, Kleider und Werkzeuge wurden bis zum Geht-nicht-mehr geflickt. Brot wegwerfen galt als Sünde, aus angefaultem oder schorfigem Obst wurden die schadhaften Stellen herausgeschnitten und der Rest verzehrt, man trank selbstverständlich Leitungswasser, allenfalls mit Sirup oder Limonadewürfeln versüsst. Für die Mobilität standen neben den Füssen höchstens Fahrrad und Bahn zur Verfügung. Man heizte nicht immer alle Zimmer und löschte das Licht beim Weggehen. Undsoweiter.

Die heutige Generation dürfte solche früher ganz selbstverständliche Verhaltensweisen kaum mehr verstehen können, eher höchst verwundert zur Kenntnis nehmen, abgesehen von einigen Zeitgenossen, welche food-waste kritisieren, Reparaturcafés eröffnen oder die gemeinsame Benutzung von Werkzeugen propagieren. Annette Kehnel hat nun aber den Mut zum Unkonventionellen aufgebracht, eine Geschichte der Nachhaltigkeit zu schreiben. Dieses Anliegen war überfällig, denn auf den eingetretenen Wandel wurde schon länger auch von Historikern, etwa Christian Pfister, hingewiesen. Die Autorin leitet ihr Buch ein mit einer berechtigten Polemik gegen eine auf den «Fortschritt», auf Wachstum und Wohlstand fixierte Geschichtsschreibung, welche den «homo oeconomicus» verabsolutiert, eine rein lineare Entwicklung annimmt, die seit dem 18. Jahrhundert erfolgte lobpreist und bloss gegenwartsbezogen in die Vergangenheit schaut. Alte Meistererzählungen vom dunklen Mittelalter, von schwer schuftenden Menschen und unvorstellbar primitiv lebenden Vorfahren werden dabei lustvoll demontiert.

Der eigentliche Inhalt des Werks wird dann unter fünf Titeln: Sharing, Recycling, Mikrokredit, Spenden/Stiften und Minimalismus dargestellt. Ein bunter Bilderbogen zieht so an uns vorbei: Klöster und Beginenhöfe als Orte des Teilens, Bodenseefischer und der Schäfer Pierre Maury aus Montaillou als Beispiel der Nutzung von Commons (basierend auf Ellinor Ostroms Theorie der Allmende). Unter dem Stichwort Recyling tauchen zahllose heute kaum mehr bekannte Reparaturberufe auf, das aus Lumpen fabrizierte Papier wird als eines der ersten Recylingprodukte vorgestellt sowie die seit der Antike üblich Wiederverwertung von Bauteilen, den Spolien, thematisiert. Die «Monti di Pietà» können als erste Beispiele von Mikrokreditbanken gelten, gleichzeitig zeigt Kehnel andere historische Formen des Mikrokredits auf. Die berühmte Brücke von Avignon, die mit Ablassgeldern erbauten Kirchen und die Augsburger Fuggerei weisen auf die Möglichkeiten hin, mittels Stiftungen grössere, der Allgemeinheit dienende Werke zu errichten, ohne staatliche Hilfe oder Logiken der Marktwirtschaft. Bekannter sind dann die Beispiele eines sich mit dem Minimum begnügenden Lebens, von Diogenes von Sinope bis zu Franz von Assisi.

Wenn auch der Bezug zu dem heute ohnehin reichlich abgenutzten Begriff der Nachhaltigkeit in diesen Beispielen nicht immer ganz überzeugend ist, so können sie doch alle als Beispiele einer Alternative zur heute herrschenden Wirtschaftsordnung mit ihrem Konsumfetischismus und ihrer Ressourcenverschwendung, ihrer Wegwerfmentalität und unverantwortlichen Müllproduktion gelten. Kehnel zeigt übrigens auf, dass viele dieser Verhaltensweisen gar nicht so alt sind. Der Wandel erfolgte nämlich definitiv erst im Laufe der Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, einerseits durch die Amerikanisierung aller Lebensbereiche, andererseits durch den Import billigen Erdöls aus dem Nahen Osten.

Die zusammenfassende Darstellung der Autorin stützt sich nicht auf eigene Forschungen, sondern einen allerdings reichen Fundus von gedruckten Quellen und Literatur. Kehnel ist Mediävistin und entsprechend stammen die meisten ihrer Beispiele aus dieser Epoche. Es ist nicht das erste Mal, dass aus der Mediävistik neue Anregungen für die Geschichtswissenschaft kommen: Die relative Armut an Quellen, die mindestens für das Früh- und Hochmittelalter auch fast alle ediert sind, erzwingt neue Fragestellungen eher als quellenübersättigte Epochen, wie die Zeitgeschichte.

Allerdings liegt in dieser Konzentration auch die entscheidende Schwäche des Buches. Zwar wird uns auf S. 17 eine Darstellung bis zur industriellen Revolution versprochen. Tatsächlich werden dann aber nur ganz wenige Themenbereiche über das Mittelalter hinweg geführt. Die Darstellung der grosso modo letzten zwei Jahrhunderte konnte sich Kehnel zwar zu Recht ersparen, denn hier hat die schon seit einer Generation betriebene Umweltgeschichte auch dem Problem der Nachhaltigkeit einige Aufmerksamkeit geschenkt. Was fehlt, ist die Frühneuzeit und das ist bedauerlich, weil genau hier die Schaltstelle für den Umschlag zu einer hemmungslos kapitalistischen Wirtschaft liegt und definitiv die Pfade beschritten wurden, die zu der von Kehnel (und allen ökologisch Denkenden) angeprangerten Problematik führten. Kronzeuge ist hier Max Weber. Seine Protestantismus-KapitalismusThese ist in einigen Punkten zwar widerlegt, vielfach aber auch missverstanden und vor allem dermassen zerredet worden, dass sich heute kaum jemand mehr damit befassen will. Aber Webers vor mehr als hundert Jahren gestellte Kernfrage: Warum kam es so und nicht anders bleibt uns weiterhin gestellt und ist noch keineswegs umfassend beantwortet. Dass die Konfession dabei eine Rolle spielte, dürfte kaum zu bestreiten sein.

Abgesehen von diesen theoretischen Überlegungen böte die Frühzeit viele weitere schöne Beispiele, die man unter den weiten Schirm der Nachhaltigkeit stellen könnte. Nur stichwortartig und gewiss ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien etwa erwähnt: Die Deindustrialisierung und Reagrarisierung Italiens nach der Krise von 1630, die damit erfolgte Diversifikation der Produktion, das die Landwirtschaft priorisierende Sicherheitsdenken, die sorgfältige Bewirtschaftung ihrer Wälder durch die Klöster, den Verzicht geistlicher Fürsten auf die Ausbeutung der Bodenschätze ihrer Territorien, die kulturellen Aufwendungen der Katholiken anstelle von Investitionen in die Wirtschaft, das (im Katholizismus) kirchliche Monopol des Kreditwesens, die von Kehnel bloss gestreiften, aber erst in der Frühzeit sich massenhaft ausbreitenden Getreidebanken in Italien und Spanien, die Bedeutung der Seelenmessen für den Geldkreislauf, die von Robert Netting am Beispiel eines Walliser Dorfes analysierten komplizierten Strategien, eine Übernutzung der spärlichen Ressourcen zu vermeiden, die Leihe von Arbeitstieren, die Bemühungen zum Bau von Segelschiffen, welche den Wind besser ausnutzten, die in Paris perfekt organisierte Wiederverwertung von Speiseresten von den Tischen der Reichen. Und vieles andere mehr, auch die Hausväterliteratur könnte noch eine Fundgrube sein.

Erste Versuche können selten vollkommen sein. Angesichts der Bedeutung der Thematik dieses Buches ist Detailkritik wenig angebracht, könnte immerhin in einer verbesserten zweite Auflage berücksichtigt werden. S. 53 müsste es Säkularisation heissen. Entgegen der Legende werden in der Tabelle S. 107 nur die absoluten Zahlen der Beginenhöfe angegeben, aber nicht der Anteil an der (vielleicht schwierig zu eruierenden) Gesamtbevölkerung. Die geläufige Parallelisierung der Emissionszertifikate mit dem Ablass scheint mir unpassend, denn dieser dient nicht der Verminderung künftiger Sünden, sondern dem Nachlass der Strafen für vergangene. In Bologna fand 1547 keine einfache Synode statt, sondern eine Sitzung des dorthin verlegten Konzils von Trient. Vielleicht aus Begeisterung für Harald Welzer wurden die Augsburger Unternehmer Welser mit «z» geschrieben. Prinzipiell bedenklich scheint mir, die Fuggerei im Kontext des Buches zu nennen. Es herrscht Konsens, dass die Fugger, namentlich durch ihre Bergbauaktivitäten, zu den ersten bedeutenden Vertretern des Frühkapitalismus zählen. Die von Jakob Fugger gestiftete Wohnsiedlung kann daher, wie viele andere Stiftungen von Kaufleuten (vgl. dazu in diesem Werk S. 294ff., zu Datini), auch als Bussleistung für dieses moralisch anrüchige Geschäftsgebaren gelten, provokativ: ein blosses Feigenblatt. Petrus Johannis Olivi ist doch eine etwas zwiespältige Figur: Wegen seiner Preistheorie könnte man ihn auch als Vorläufer modernen und entsprechend problematischen nationalökonomischen Denkens betrachten. Das Werk von Kehnel ist eine höchst wichtige Neuerscheinung und geeignet für einen Paradigmenwechsel. Die Abkehr von einer simplifizierenden und naiven Fortschrittsge schichte ist überfällig, eine Neubewertung von verächtlich taxierten Verhaltensweisen unserer Ahnen notwendig. Wir müssen den «homo cooperans» wiederentdecken. Zu hoffen bleibt, dass der von Kehnel eingeleitete «ecological turn» keine Seifenblase bleibt und vor allem die Frühneuzeithistoriker den von ihr aufgeworfenen Ball aufnehmen. Noch wichtiger wäre allerdings, aus dem Buch etwas für die Praxis der Gegenwart zu lernen, auch wenn die Autorin dazu in dem etwas abfallenden Schlusskapitel keine Rezepte liefern will.

Zitierweise:
Hersche, Peter: Rezension zu: Kehnel, Annette: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, München 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 500-502. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.