P. Hersche: Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus

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Titel
Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus.


Autor(en)
Hersche, Peter
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
203 S.
von
Marty Christian

Die Weberforschung wird seit jeher dominiert von Interpreten, die bekunden, dass der Universalgelehrte ein Grossteil von dem, was sich in Europa um 1900 auf dem Gebiet von Wirtschaft, Politik oder Kunst abspielt, entschieden bejaht habe. Für tonangebende Weberianer wie etwa Reinhard Bendix, Wolfgang Mommsen oder Wolfgang Schluchter ist ausgemacht, dass Max Weber weder mit Marxens Kritik an kapitalistischen Wirtschaftsformen noch mit Nietzsches Schelte gegenüber demokratischen Herrschaftstypen etwas anfangen konnte – im Gegenteil: Weber sei «jenseits» von deren Kulturkritik gestanden; im Gegensatz zu jenen sei er «ein leidenschaftlicher Vorkämpfer» eines «dynamischen Kapitalismus» ebenso wie einer «plebiszitären Demokratie» gewesen.

Neben dieser sehr verbreiteten, in der einschlägigen Literatur oft als «orthodox» bezeichneten Lesart des Weber’schen Werkes gibt es eine weniger verbreitete, häufig als «heterodox» betitelte Lesart, nach welcher Max Weber immer in einer moderneskeptischen, zuweilen gar in einer modernekritischen Tradition stand. Die Interpretationen von Karl Löwith, Albert Salomon oder von Wilhelm Hennis stehen exemplarisch für diese Lesart. So gelesen war Weber weniger ein leidenschaftlicher Befürworter moderner Entwicklung als eher ein «bürgerlicher Marx» «auf den Spuren Nietzsches» und damit ein Kulturkritiker, welcher «in der Zeit gegen die Zeit» kämpfte.

Peter Hersche, bisher nicht aufgefallen durch Publikationen über Max Weber, zählt sich in seinem 2021 erschienenen Buch Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus bewusst zur zweiten Kategorie der Weberinterpreten. Im Anschluss vornehmlich an Wilhelm Hennis’ Werke will auch er den «‹anderen› Weber» (S. 7) hervorheben, jenen Weber also, der den «Fortschritt» – will heissen: Kapitalismus, Demokratie, Entzauberung und Verwissenschaftlichung in seinem (Webers) Verständnis dieser Begriffe – als problematisch ansah.

Das schmale, flott formulierte und einen substantiellen Beitrag zur Weberforschung leistende Buch von Hersche ist in sieben Kapitel gegliedert, wobei in jedem Kapitel eine Facette des kulturkritischen Weber beleuchtet wird: Nachdem im ersten Kapitel der Aufenthalt des Gelehrten in Rom thematisiert worden ist – ein Aufenthalt, der für diesen in etlicher Hinsicht prägend war –, handeln die folgenden Kapitel von dessen regem Interesse an Ideen, Organisationen und Persönlichkeiten, welche kritisch sind gegenüber der «abendländischen Rationalisierung».

Mit vielen Bezugnahmen auf den riesigen Quellenkorpus, mit kundigen Verweisen auf die relevante Sekundärliteratur sowie mit amüsanten Exkursen in biographische Schlüsselereignisse geht es im Buch um Kultur- und Zivilisationskritik, um die Lebensreform und die erotische Bewegung, um den Kulturkatholizismus und den protestantischen Arbeitseifer, um die Ökologie und den beginnenden Landschaftsschutz, um den Kapitalismus und die wachsenden Naturzerstörung und zudem, so im abschliessenden Kapitel, um die Aktualität der Weber’schen Kapitalismuskritik angesichts der ökologischen Krise.

Die grösste Leistung von Peter Hersche besteht darin, dass er gleich eine Vielzahl von Denkanstössen liefert bei Themengebieten, welche in der «Weber-Interpretationsindustrie» (Hans-Peter Müller) für gewöhnlich nur am Rand besprochen werden. Dass, wie, aus welchen Gründen und mit welchen Folgen sich Max Weber beispielsweise mit dem Vegetarismus auf dem Monte Verità, mit dem Anarchismus in der Weltkriegszeit oder mit dem so kapitalismusfeindlichen wie umweltfreundlichen Kreis um Ludwig Klages auseinandersetzte, das ist durch die Forschung bisher nur spärlich untersucht worden. So ist es umsoerfrischender, dass Hersche aufzeigt, wie intensiv sich Weber mit solchen Alternativkulturen beschäftigt hat.

Fraglich ist, ob Max Weber – wie Hersche findet – mehr für Alternativkulturen übrig hatte als Erkenntnisinteresse. Der Skeptizismus dieses Denkers richtete sich nicht nur gegen die (von ihm für gewöhnlich zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzten) «Fortschritte» im Polit- oder Wirtschaftsleben, sondern auch gegen die (von ihm für gewöhnlich mit beissendem Spott überzogenen) Lösungsvorschläge aus alternativen Kreisen. Dass sich Weber vom ökologischen Flügel der fortschrittskritischen Bewegung etwas erhoffte gegenüber der kapitalistischen Umweltzerstörung, scheint unrealistisch, denn dieser war stets geradezu penetrant darauf bedacht, Optimismus als Illusion zu entlarven. «Heute [...] ziemt uns der Versuch», so heisst es in der Antrittsvorlesung mit Blick auf etwaige Weltverbesserungspläne, «den Schleier der Illusionen zu lüften [...].»

Norbert Bolz – dessen Arbeiten zu Weber werden von Hersche nicht zitiert – betonte in seiner auch für die Weberforschung wegweisenden Habilitationsschrift m. E. zurecht, dass sich Max Weber dem in Deutschland um die Jahrhundertwende vielfach beschworenen Auszug aus der entzauberten Welt radikal verweigerte. Weber, so Bolz im Anschluss an Siegfried Kracauer, war ein «Wartender»: Er macht sich etwas vor weder über die Zustände der modernen Welt noch über die Chancen einer möglichen Alternative. «Wer glaubt daran?», so wird in Wissenschaft als Beruf gefragt, «ausser einigen grossen Kindern auf dem Katheder oder in Redaktionsstuben?» Man habe «kein Schlaraffenland» zu erwarten, so pflegte Weber zu denjenigen zu sagen, welche die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch verändern wollten, «weder im Diesseits noch im Jenseits, weder im Denken noch im Handeln [...].»

Zitierweise:
Marty, Christian: Rezension zu: Hersche, Peter: Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus, Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 498-499. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.