H. Schmidt: Worber Geschichte

Cover
Titel
Worber Geschichte.


Herausgeber
Schmidt, Heinrich Richard
Erschienen
Bern 2005: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Es dürfte nicht häufi g vorkommen, dass die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einer neu erschienenen bernischen Ortsgeschichte eine ausführliche Besprechung im Umfang von mehr als einer halben Seite widmet (NZZ, 10.1.2005, Seite 9). Im Fall Worb tut sie das und zu Recht. An der neuen Worber Ortsgeschichte ist sehr vieles bemerkenswert: der Grad der Professionalisierung, der Preis, Gewicht und Seitenzahl sowie der Inhalt.

Die Ortsgeschichtsschreibung boomt, wie Christian Lüthi in seinem Aufsatz
«Ortsgeschichtsschreibung im Kanton Bern» («Berner Zeitschrift» 2005-1, 1–36) feststellt. 102 ortsgeschichtliche Publikationen erschienen im Kanton Bern seit 1970. Die Worber Geschichte hat gute Chancen, in dieser Publikationskaskade einen Meilenstein zu markieren. Sicher ist ein weiterer Schritt zur Professionalisierung der Ortsgeschichtsschreibung geleistet worden. Es war ein Glücksfall, dass der in Worb ansässige Berner Universitätslehrer Heinrich Richard Schmidt sich mit seinen Studierenden des Projekts Worb annahm. Als Co-Autoren zeichnen Fachleute aus den verschiedensten Bereichen. Aber den grössten Teil der über 50 Mitarbeitenden stellten die Studentinnen und Studenten. Etwas plakativ und sehr vereinfachend titelte die NZZ in ihrer Besprechung «Historikerteams statt Dorflehrer». Dazu ist erstens festzustellen, dass an bernischen Ortsgeschichten seit jeher und heute zunehmend auch «Fachhistoriker» am Werk waren und sind. Zweitens gibt es unter den Dorflehrern hervorragende Historiker. Sogar Richard Feller begann seine Karriere als Volksschullehrer.

Zur Professionalisierung: Die äusseren Zeichen sind eine Einleitung des Herausgebers, aus welcher Methodik und wissenschaftlicher Ansatz ersichtlich sind, Endnoten am Schluss jedes Kapitels, die überprüfbare Quellenangaben liefern, ein Quellen- und Literaturverzeichnis (beim Worber Buch sind es 24 Seiten!), Abbildungsnachweise, Abkürzungsverzeichnis sowie ein umfassendes Orts-, Personenund Sachregister. In einer editorischen Vorbemerkung werden die Editionsregeln für Quellenzitate, Schreibweisen, Interpunktion usw. festgehalten. Fremdwörter und Fachbegriffe werden im Text sofort in eckigen Klammern erklärt. Damit wird flüssiges Lesen ohne Blättern in einem Glossar ermöglicht. Wer es in Zukunft unternehmen will, am farbigen Teppich der Worber Geschichte weiterzuweben, der findet die archivalischen Schriftquellen (Findbücher) sowie Bild- und Kartenmaterial elektronisch gespeichert und im Internet zugänglich (www.worb.ch).

Zum Preis: Der Druck der 3000 Exemplare der Worber Geschichte im Umfang von 720 Seiten kostete 150 000 Franken. Die neuen Reproduktions- und Publikationstechniken haben also in den letzten Jahren zu einer fast schon sensationell zu nennenden Verbilligung der Buchproduktion geführt. Das ist eine grosse Chance für die Ortsgeschichtsschreibung. Ortsgeschichten scheitern ja eigentlich nie am Mangel an sachkundigen Verfassern, aber gelegentlich an der Sparsamkeit von Gemeindeversammlungen. Die Gemeinde Worb stellte für das Unternehmen 230 000 Franken zur Verfügung. 80 000 Franken konnten also für das eigentliche Projekt, für die wissenschaftliche Infrastrukur, für Recherchen usw. eingesetzt werden. Die Arbeit der Beteiligten wurde ehrenamtlich geleistet. Zum Vergleich: Die 1992 in 800 Exemplaren erschienene Ortsgeschichte von Bellmund im Umfang von 272 Seiten kostete 85 000 Franken, wovon 70 000 Franken Druckkosten waren.

Zum Inhalt: Die «Worber Geschichte» ist thematisch in sechs Hauptkapitel gegliedert: Siedlungsraum und Frühgeschichte; Die Menschen und ihre Gesellschaft; Herrschaft und Gemeinde; Gericht, Recht und Sicherheit; Kultur und Religion; Ökonomie und Infrastruktur. Die einzelnen Themenbereiche sind je in 5 bis 11 Unterkapitel gegliedert. Auf eine chronologische Gliederung wurde bewusst verzichtet, auch innerhalb der einzelnen Hauptkapitel. Der Herausgeber Heinrich Richard Schmidt erklärt dazu im Vorwort: «Durch die Gliederung der Beiträge stellt die vorliegende Ortsgeschichte die Menschen und ihre Gesellschaft in den Vordergrund. Ihr politisches Wollen und ihre Gestaltungs- und Handlungsspielräume erhalten vor den Zwängen der Ökonomie den Vorrang. Deshalb widmet sich dieses Buch den Bereichen Gesellschaft, Politik, Recht und Kultur/Religion, bevor die Wirtschaft thematisiert wird. Der hohe Stellenwert, der dadurch Politik und Kultur beigemessen wird, ist ein Tribut an die moderne Alltags- und Kulturgeschichte, welche auch die gewöhnlichen Menschen als Subjekte würdigt und nicht mehr als Marionetten anzusehen bereit ist, die durch die Ökonomie gleichsam am Gängelband geführt werden.»

Das kultur- und alltagsgeschichtlich ausgerichtete Werk wird durch eingestreute Geschichte(n) und Lebensbilder bereichert, darunter etwa die Biografi en des Auswanderers und Kolonisators Christoph von Graffenried, des Regierungsrates Karl Könitzer, der Bierbrauerlegende Gottfried Egger, des Erbauers der Kirchenfeldbrücke Gottlieb Ott, aber auch die bewegende Geschichte der Unterschichtsfrau und «Mordbrennerin» Anna Mosimann.

Beeindruckend ist das weite Themenspektrum. Zeitlich liegt das Schwergewicht im 18. und 19. Jahrhundert. Die in vielen traditionellen Ortsgeschichten wuchernde Ur- und Frühgeschichte von der jüngeren Steinzeit bis zur Römerzeit wird knapp auf zehn Seiten im ersten Hauptkapitel abgehandelt, das schwergewichtig dem Siedlungsraum gewidmet ist. Hingegen kann man die Frage stellen, ob dem 20. Jahrhundert nicht etwas mehr Gewicht hätte eingeräumt werden können. Über den Prozess der Suburbanisierung, der Agglomerationsbildung und die damit einhergehenden politischen und soziokulturellen Prozesse und Veränderungen hätte man gerne noch etwas mehr erfahren. Aber das ist leicht zu verschmerzen bei der Fülle der behandelten Themen, die hier nicht einzeln aufgezählt werden können. Man darf einfach erfreut feststellen, dass das Werk sowohl für historisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, Worber und Nichtworber als auch für Fachhistoriker spannende, anregende und bereichernde Lektüre bietet.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Schmidt, Heinrich Richard (Hrsg.): Worber Geschichte, Bern, Stämpfli, 2005, 720 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 4, Bern 2007, S. 70f.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 4, Bern 2007, S. 70f.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit